Moby Dick rettet die Parlamentarier ins Wasserwerk

■ 10.000 demonstrieren bei der Blockade der Bannmeile: Doch irgendwie kamen die Bundestagsabgeordneten doch durch

Der CDU-Abgeordnete Michael von Schmude läßt seinem Ärger freien Lauf. Zweieinhalb Stunden zu spät sei er zur Sitzung gekommen. Von Demonstranten sei er angegriffen worden, die Polizei habe untätig zugeschaut. Später stellt sich heraus, daß er von Demonstranten lediglich umringt wurde und kein gekrümmtes Härchen davontrug. Doch zunächst einmal platzt Schmude mit diesen Worten in eine Pressekonferenz, die der Bonner Polizeipräsident Michael Kniesel an diesem Nachmittag auf der Heußallee abhält. Der Polizeipräsident hat es schwer an diesem Tag. 662 Abgeordnete und damit, so Kniesel, „662 potentielle Einsatzleiter“, wußten gestern nachmittag ganz genau, was die Ordnungshüter alles falsch gemacht hatten.

Mit deutscher Gründlichkeit hatten die Demonstranten das Regierungsviertel am Vormittag an allen Zugängen blockiert – um den Abgeordneten zu zeigen, sagten sie, „wie es ist, wenn man nur zu Wasser oder durch die Luft einreisen kann“. Der Polizei war es dennoch geglückt, die Parlamentarier komplett in das Wasserwerk zu geleiten: 130 flogen mit dem Hubschrauber ein, 260 wurden von dem Ausflugsdampfer „Moby Dick“ über den Rhein geschippert, 250 kamen über den Landweg.

Und der einsame Abgeordnete mit Aktentasche, der kurz nach acht Uhr auf der Heußallee voranmarschierte, als sei da nicht ein dichter Ring von jungen Menschen, wie ist er schließlich hereingekommen? Er bittet um Einlaß in die Bannmeile. Umsonst. Das Quartier ist umstellt. Es ist fast neun Uhr, und so wird er zu spät kommen und nicht hören, wie Ingrid Köppe von Bündnis 90/Die Grünen als erste Rednerin im Bundestag den Antrag auf Aufhebung der Bannmeile stellt – umsonst. Auch der SPD-Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul hilft nicht ihr Sätzchen: „Aber ich werde doch mit Nein stimmen.“

Das Losungswort, das Sesam- öffne-Dich, des Tages X zum Eintritt in die Bannmeile lautet: „Ich will beten.“ Überzeugend genug vorgebracht, darf man die magische Grenze zum inner circle der Bannmeile betreten, um pünktlich um neun Uhr an dem Gottesdienst in der Kurt-Schumacher-Straße teilzunehmen. „Wenn unsere Kinder einmal hören werden von der heuchlerischen Diskussion. Ich finde das erschütternd“, sagt der Bonner Superintendent Burkhard Müller, bevor er dann auf der kleinen Bühne, die als Kanzel dient, spricht. „Darum machen wir einen Gottesdienst – irgendwo müssen die Mauern brechen, mit denen wir uns ummauern.“ An die Adresse der Politiker im Parlament, die nur einen langen Steinwurf entfernt ihre Positionen darlegen, meint er: „Ihr könnt doch gar nicht so dumm sein wie eure Argumente.“ Oder vielleicht doch?

Jedenfalls kein Verständnis für die friedlichen ChristInnen zeigte der erboste CDU-Abgeordnete Rolf Olderog, der sich anscheinend in den Kreis der Betenden verirrt hatte: „Dies ist kein Gottesdienst, sondern eine Störung der verfassungsmäßigen Aufgabe des Parlaments.“ Ein Dominikanerpater erinnert an die Erinnerung, die in Deutschland keinen Platz habe, und an die Geschichte, die vergessen werde. „Israel überliefert seine geschichtliche Erfahrung jährlich beim Pessach-Fest an seine Kinder. Wir selbst tun uns schwer mit unserer Geschichte. Zu den Verfolgten gehörten auch einige Väter des Grundgesetzes, das jetzt so leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird.“

Zum Schutz des leichtfertigen Spiels sind in der Bannmeile zwischen 4.000 und 5.000 Polizisten im Einsatz. Ihnen gegenüber stehen etwa 10.000 zumeist friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen, von denen viele schon seit sechs Uhr auf den Straßen Bonns unterwegs sind.

„Wir sind so überflüssig wie die Eier des Papstes“, kommentiert noch am frühen Vormittag ein Polizist gegenüber einem Kollegen das monströse Aufgebot von Gesetzeshütern. Als sich dann auch in der glühenden Mittagshitze die Blockade vor dem Eingang in die Bannmeile allmählich auflöst, scheint er zunächst recht zu bekommen. Doch zu früh. Einige tausend Autonome ziehen jetzt laut skandierend („Wo, wo, wo ward ihr in Rostock?“) auf den Polizeikordon zu. „Wir wollen vor dem Bundestag demonstrieren“, verkündet ein Megaphon. Die Polizei wird nervös.

Als gegen 13 Uhr die ersten Flaschen und Steine auf die Helme der Beamten niederprasseln, ist es aus mit der friedlichen Stimmung. Sturm in die Bannmeile? Die „Städtedelegierten“ der Autonomen entscheiden: Nein. „Angesichts der gigantischen Bullenpräsenz verzichten wir auf den Durchbruch“, verkündet das Megaphon.

Doch gleich darauf entlädt sich die Wut über die eigene Niederlage. Ein Hagel von Flaschen, Büchsen und Pflastersteinen trifft die Polizisten. Während viele TeilnehmerInnen „Keine Gewalt!“ fordern, marschiert Kniesels Sondereinsatzkommando vor und verjagt die Autonomen.

Wenige Minuten nach dem Zwischenfall kommentiert der Polizeipräsident zufrieden: „Die Bannmeile konnte gehalten werden.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ihm Regierungssprecher Dieter Vogel freilich schon ein Nachspiel angedroht. Hinter den Barrikaden im friedlich debattierenden Parlament – aus Sicherheitsgründen ist sogar die Terrasse im Parlamentsrestaurant gesperrt – kursierten die wildesten Gerüchte. Von verprügelten Abgeordneten ist die Rede. FDP- Fraktionschef Hermann Otto Solms behauptet gar, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Dieter Kastrup, sei tätlich angegriffen worden. Das Auswärtige Amt dementiert, Kniesel spricht von „Tatarenmeldungen“. In der Tat ist die Bilanz der Gewalt am Nachmittag wenig schreckenerregend. 13 Polizisten wurden leicht verletzt. Einen davon hatte sein eigener Hund gebissen. Julia Albrecht, Hasso Suliak, Bonn