In der Festung sind sie für die Festung

Leichtgemacht hätten sie es sich nicht mit ihrem Ja zum „Asyl-Kompromiß“, meinte am Tag der Schlußdebatte ein FDP-Parlamentarier. Schwer war es für die Bonner Volks- vertreter schon gewesen, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen.

Erst Jörg van Essen, der stets schneidige Liberale, dann der Unionsabgeordnete Erwin Marschewski, danach Gerd Wartenberg, der Sozialdemokrat mit Erfahrungen vom Kreuzberger Pflaster — um die Mittagstunde sprechen die drei Abgeordneten, die am Asylkompromiß ganz maßgeblich mitgearbeitet haben. Essen, Jahrgang 47, Ex-Oberstleutnant und Oberstaatsanwalt, gehört zu jener neueren Riege in der FDP, die man ebenso gut bei der Union vermuten könnte. Nur pflichtschuldig klingt sein „Wir haben es uns nicht leichtgemacht.“ Überzeugt scheint der liberale Abgeordnete viel eher, wenn er etwa sagt, „daß es zwar ein Menschenrecht auf Schutz vor politischer Verfolgung und unmenschlicher Behandlung, aber kein Recht auf diesen Schutz im Wunschland, ein Asylrecht à la carte gibt“. Mit erhobenem Zeigefinger, mal ist esder rechte, dann wieder der linke, legt Erwin Marschewski dar, daß die Union es schon immer gewußt habe, nur „war uns das Notwendige nicht möglich, weil die SPD, deren Stimmen wir für die Verfassungsänderung brauchen, sich bisher gegen diese Verfassungsänderung ausgesprochen hatte“. Allzu große Neigung zum Selbstzweifel ist Erwin Marschewskis Sache auch in dieser Debatte nicht, unverdrossen appelliert er in seinem charakteristischen Tonfall, der seine Herkunft aus Recklinghausen nicht verleugnet, an die Gegner des Kompromisses: „Unser Volk verlangt eine praktikable Antwort zur Lösung des Asylproblems — es kann rein akademische Diskussionen nicht mehr ertragen. Sonst wird es sich verweigern.“ Gerd Wartenberg, der den neuen Gesetzen am Abend dieses Tages zustimmen wird wie seine beiden Vorredner, schätzt solche schlichte Eindeutigkeit hingegen nicht. „Meine Unsicherheit ist nach wie vor groß.“ Es gäbe einen Widerspruch zwischen den Ansprüchen an Humanität und denen nach wirksamer Steuerung, der nicht voll aufzuheben sei. Die Fluchtbewegungen seien ein globales Problem, für das es im Rechtsstaat nur Teillösungen geben könne. „Das ist dummes Zeug“, meint Wartenberg dann an die andere Adresse, an Konrad Weiß und Gregor Gysi. Es ginge nicht, das Thema auf eine abstrakte Ebene zu heben, „daß man das Problem nicht mehr sieht.“

Parlamentarischer Schlußstrich unter das Asylrecht, das 1949 in die Verfassung geschrieben wurde — als „Bringschuld der Deutschen an die Geschichte“, wie Helmut Kohl einmal formulierte. Die vier Worte werden weiter im Grundgesetz stehen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ — aber nicht in Deutschland, fügte Konrad Weiß vom Bündnis 90/Die Grünen bitter an. Denn die folgenden vier Absätze des neuen Artikel 16a schränken das individuelle Grundrecht fundamental ein. „Jeder Flüchtling, der über irgendein Nachbarland einreisen will oder aus irgendeinem Nachbarland heimlich unsere Grenze überquert hat, kann in Zukunft ohne jede Anhörung aus der Bundesrepublik dorthin zurückgeschickt werden“, faßte Burkhard Hirsch (FDP), der wie seine Fraktionskollegen und -kolleginnen Gerhard Baum, Michaela Blunk, Wolfgang Lüder Birgit Homburger und Cornelia von Teichmann das neue Recht ablehnt, zusammen.

Auch die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen gehört zu dieser Minderheit in der FDP. Neben der PDS und Bündnis 90-Abgeordnete verweigerten sich fast hundert SPD-Abgeordete dem Kompromiß, der im Dezember zwischen den Unterhändlern der Regierungsparteien und der SPD ausgehandelt worden war.

Der Bundestag, an diesen Tag umlagert von Demonstranten aus der ganzen Republik, wirkte selten so entrückt wie gestern. Abgeschirmt durch den massiven Polizeieinsatz, die strengen Auflagen für die sonst sehr viel präsenteren Presseleute, hatten die Abgeordneten Ruhe, nachdem sie mehr oder weniger glücklich die Schwierigkeiten der Ankunft überstanden hatten. Von denen waren die kritischen Abgeordneten, etwa Wolfgang Ullmann oder Heidi Wieczorek-Zeul, stärker betroffen als andere, die sich via Hubschrauer oder Rheinschiff jeder Berührung mit den Demonstranten vorsichtshalber ganz entzogen hatten.

Die Aufregung über die „Chaoten“ (CSU-Landesgruppenchef Michael Glos) wirkte in der gänzlich harmlosen Umgebung des Wasserwerks reichlich übertrieben, wie etwa auch der Dank an die Polizei, mit dem Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble seine Rede eröffnete. Schäuble, endlich am Ziel seiner Asylwünsche, gab sich redlich Mühe, nicht zu triumphieren. Schäuble wandte sich gegen den Vorwurf der Abschottung und sagte, daß auch nach der Grundrechtsänderung „genügend Verfolgte und Nicht-Verfolgte“ kommen würden. Daß heute nicht „der Tag des Nachkartens“ sei, behauptete er indes nur. Denn er wäre nicht Schäuble, wenn er der Versuchung hätte widerstehen könne, die SPD kräftig zu reizen. Diesmal zitierte er Willy Brandt und Herbert Wehner als Kronzeugen gegen die SPD-Fraktion: „Sie hätten vielleicht früher auf ihre früheren Vorsitzenden hören sollen.“ Ohne Änderung des Grundgesetzes sei der innere Frieden im Land nicht zu wahren, dieses Argument für die Asylrechtsänderung war gestern von Schäuble zuerst, dann in zahllosen Varianten von anderen zu hören: in Unions- und FDP-Reden ebenso wie bei den Sozialdemokraten.

Als zweite zentrale Begründung zog sich durch die Debatte: die Europäisierung des Flüchtlingsproblems. Für den Fraktionsvorsitzenden der SPD liegt hier der eigentliche Wert des Kompromisses mit den Regierungsparteien. Bei allen Zweifeln, wieweit die neue Regelung zur Steuerbarkeit der Wanderungsbewegung beitragen kann, verspricht sich Hans-Ulrich Klose doch, daß ein Prozeß der Europäisierung angestoßen wurde. Er hob den deutsch-polnischen Vertrag positiv hervor: er könnte ein „Einstieg in das europäische Lastenverteilungsverfahren“ sein und „Pilotfunktion haben. Klose, Chef einer Fraktion in tiefem Zwiespalt, dämpfte übertriebene Erwartungen: „Eine Lösung des Asylproblems in dem Sinne, daß niemand mehr kommt, die gibt es nicht.“ Froh und ungeteilt glücklich sei in der Fraktion niemand, er selbst auch nicht. „Ich betone das im bewußten Gegensatz zu denen, die immer so genau wissen, was richtig ist und moralisch – hier und draußen auf der Straße.“

Erst am Nachmittag kamen mit Burkhard Hirsch und Eckhard Kuhlwein die Abweichler zu Wort: „Wir beschließen heute nicht über die doppelte Staatsbürgerschaft,... nicht über die Fluchtursachenbekämpfung, nicht über ein europäisch abgestimmtes Flüchtlingsrecht“, zählte Kuhlwein die enttäuschten Hoffnungen vieler Sozialdemokraten auf, die im November, beim Bonner Sonderparteitag der SPD „schweren Herzens“ einer Asylrechtsänderung zugestimmt hatten.

Er beklagte, wie leicht sich die Bundesregierung über gravierende Einwände einer UN-Organisation hinweggesetzt habe. Der Hohe Flüchtlingskommissar habe die ausdrückliche Einbeziehung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Konvention angemahnt und den Rechtsschutzmangel getadelt – vergeblich.

Die Bibel – im Bundestag eine Zumutung?

Mit einem Änderungsantrag in zweiter Lesung wollte die SPD geschlossen eine Änderung. Artikel 34a, Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes, läßt als Rechtsmittel nur den Weg zum Verfassungsgericht zu und schließt alle anderen ausdrücklich aus. Hans-Jochen Vogel, der ehemalige SPD-Vorsitzende, hatte diesen Passus als verfassungswidrig bezeichnet. Wartenberg warb bei der Union für den SPD-Antrag mit der „kontraproduktiven Wirkung“ dieser Regelung. Daß das Verfassungsgericht diesen Passus zu Fall bringen könnte, wird von vielen Sozialdemokraten erwartet. Die Regierungsparteien blieben jedoch unbeeindruckt. Für die SPD war dieser Dissens fast eine Erleichterung – immerhin ein Punkt, in dem sich alle gegen die Regierungsparteien einig waren.

Die SPD im Zwiespalt, die FDP trotz ihrer sieben Dissidenten bis zur Unkenntlichkeit einig mit der Union, die schon die nächsten Schritte gehen will. Bundesinnenminister Rudolf Seiters machte sehr klar, daß für ihn die Entwicklung weitergehen muß: „Wie schnell uns dies gelingt, hängt von einer Reihe von Faktoren ab; besondere Bedeutung kommt dabei der Grenzkontrolle und Grenzüberwachung zu. Wir werden an unseren östlichen und südöstlichen Grenzen das Personal verstärken. Wir drängen auf weitere Rücknahme-Übereinkommen. Die Länder müssen eine konsequente Aufenthaltsbeendigung sicherstellen.“

Zitiert wurde übrigens auch von Gregor Gysi (PDS/LL). Er hatte in der Bibel gelesen und hielt den Christdemokraten Moses und das Matthäus-Evangelium vor. Die wiederum lieferten erneut den Beweis, daß ihnen gelegentlich jede Souveränität abgeht. Gysi konnte wegen der heftigen Unruhe in den Reihen der Union kaum weitersprechen und wandte sich an Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Die konnte sich nicht entziehen und mahnte die Abgeordneten pflichtgemäß zur Ruhe, allerdings mit der ungewöhnlichen Anmerkung, der Abgeordnete Gysi mute dem Parlament allerhand zu. Gysi: „Es ist mir neu, Frau Präsidentin, daß im deutschen Bundestag die Bibel eine Zumutung ist.“ Tissy Bruns, Bonn