Voll in der Scheiße

■ Ein Besuch in Bremens verrottender Unterwelt: der Abwasserkanal unter der Sögestraße

Voll in der Scheiße

Ein Besuch in Bremens verrottender Unterwelt: der Abwasserkanal unter der Sögestraße

Im Schein der Tragelampe blitzt ein silbernes Brotmesser im Schlamm. „Wie das hierherkommt?“, murmelt Gerhard Freund, der uns mit der Lampe durch den engen, finsteren Kanal voranplatscht. Hier unten, fünf Meter unter der Sögestraße, sammelt sich, was die Menschen ins Klo schmeißen und der Regen in die Gullys spült: Klopapier in allen Stadien der Aufweichung und völlig unbeschädigte Plastiktüten. Zwei große Backsteine im Kanal bringen Freund ins Grübeln. „Aus der Tunneldecke gefallen sind sie jedenfalls nicht.“

Könnten sie aber. Denn der 1902 gebaute „Mischwasserkanal“ kann nach Angaben der Bremer Entsorgungsbetriebe (BEB) jederzeit einstürzen. Doch der Kanal wird nicht renoviert, sondern nebenan wird ein neuer Tunnel zwischen Sögestraße und Marriott-Hotel „vorgepreßt“. Wenn das getan ist, wird der alte aufgefüllt und zugemauert. Es muß also nicht von oben gebuddelt werden, sondern der Kanal wird unterirdisch vorgetrieben, um den oberirdischen Verkehr nicht zu beeinträchtigen. Kosten der Aktion: 5 Millionen Mark. Am 17.Mai war Baubeginn. Und obwohl der Verkehr fast unbehindert in die Innenstadt fließt, beschweren sich einzelne Kaufleute über die Baustelle, sagt Heinz-Otto Mohrmann vom Bausenator.

Eine Begehung des Kanals würde sie vielleicht von der Notwendigkeit der Baustelle überzeugen. In hüfthohen Gummistiefeln patschen wir geduckt durch die Kloake, geschützt von einem weißen Plastikoverall, Helm und Handschuhen. Gerhard Freund erklärt uns die Schwachstellen des Kanals, die der Laie nicht sieht: die Decke ist rund und abgesenkt (“Sie wissen ja, wenn in so einem Gewölbe der mittlere Stützstein nicht mehr hält, bricht alles zusammen“), an einer Stelle ist der Kanal von der Seite eingedrückt (“Bombenschaden aus dem Krieg“). Am Ausstieg sind Löcher mit Mörtel zugeschmiert, tief im Schacht klafft ein kapitaler Riß in der Wand.

Der Unterschied zwischen dem verrotenden Kanal und einem neugebauten Tunnel wird deutlich beim Blick zurück: ordentlich aus Backsteinen gemauert und schön gleichmäßg eiförmig entschwindet der Kanal Richtung Schüsselkorb um eine Biegung. So wünscht man sich bei den BEB einen Abwasserkanal.

Insgesamt über 2.700 Kilometer Kanäle entsorgen Bremens flüssige Hausabfälle. 20 Prozent davon, schätzt Kurt Scheller, Abteilungsleiter für Kanalplanung und Baudurchführung bei den BEB, sind schadhaft. Denn das Bremer Abwassersystem ist, wie in vielen anderen deutschen Großstädten, vor etwa hundert Jahren begonnen worden. Inzwischen verrotten die alten Kanäle und geben durch Risse und Lecks die Kloake ins Erdreich und Grundwasser ab. Im schlimmsten Fall, wie unter der Sögestraße, sind sie so baufällig, daß sie jederzeit einstürzen können.

„Die Sanierung des Bremischen Abwassersystems wird über die nächsten 10 Jahre 500 Millionen bis eine Milliarde Mark kosten.“ Wie gut, meint Scheller, daß die BEB da nicht mehr an die knappen Kassen des Landes gebunden ist, sondern als Eigenbetrieb alleinverantwortlich rechnet. „Denn wir sind ja verpflichtet, die Sanierungen durchzuführen, sonst stehen wir mit einem Bein im Gefängnis. Gewässerverschmutzung ist eine Straftat.“ Finanziert wird all das durch die Wassergebühren — und die reichen momentan noch aus, meint Scheller: Eine Erhöhung für 1993/94 sei jedenfalls nicht geplant.

Fast 300 Kanalkilometer müssen jährlich in Bremen untersucht werden, allein 20 Kilometer zu Fuß. Durch die 2.500 Kilometer langen unbegehbaren Kanäle fährt „Gullyver“, ein kleiner Kamerawagen. Die Begehungen der BEB dagegen erfordern ein Team von fünf GullytaucherInnen: drei waten durch die Kackekanäle, die anderen lenken oben den Verkehr und halten sich bereit, die KollegInnen aus dem Dreck zu ziehen, wenn die „wegen der Gase umkippen“ sollten.

„Für die Mitarbeiter gibt es Schmutzzulagen“, sagt Scheller. Obendrauf sollte noch eine Gestankszulage kommen: Es riecht, wie es nun mal riecht, wenn die ungeklärten Darmendprodukte der Stadt einem an den Fußsohlen entlangglucksen. An den Wänden fließt das Wasser herunter. Vor kleinen Seiteneinleitungen liegt klumpige Papiermatsche.

„Hier im Rohr sitzt bestimmt eine Ratte“, sagt Gerhard Freund und leuchtet den Schacht aus — Fehlanzeige. „Pro Einwohner eine Ratte“ ist die Daumenregel für die intelligenten Tiere im Großstadtmüll. Wir klettern wieder ans Tageslicht und pellen uns aus den Overalls. „Dieser Kanal ist unberechenbar. Eigentlich hätte ich Sie da gar nicht runterlassen dürfen“, meint Scheller beim Empfang. Das sagt der Mann jetzt — hinterher.

Bernhard Pötter