Wenn die Schule ein Zufluchtsort ist

An der New Yorker „Harvey Milk High School“ lernen schwule und lesbische Jugendliche Mathematik, Geschichte und Überlebenstechniken / Bürgerrechtsgruppen skeptisch wegen Segregation  ■ Aus New York Andrea Böhm

Einen Zufluchtsort würde man hier gerade nicht vermuten – und auch keine Schule. Auf der West Street, jener Schnellstraße zwischen dem Gewerbegebiet an Manhattans Westgrenze und dem Hudson River, sind Benzingeruch und Autolärm noch penetranter als drei Blöcke weiter in Greenwich Village oder im benachbarten Chelsea. Touristen lugen manchmal aus den Seitenstraßen hervor, um einen Blick über den Fluß auf die eher mickrigen Hochhausfassaden im gegenüberliegenden New Jersey zu werfen. Einige mögen im Vorbeigehen noch die Hausnummer 401 mit der Aufschrift „Hetrick Martin Institute“ bemerken und sich fragen, wie, um alles in der Welt, eine solch gehobene Einrichtung sich hierher, zwischen Ölpfützen, Autowerkstätten und verrottete Hafenanlagen, verirren konnte.

William Bogebin stapft die gußeisernen Stufen des Instituts hoch und schlängelt sich in einen der Schulstühle, deren Armlehne als Schreibfläche dient. Der Raum ist winzig und fensterlos. Die Aluschächte der Entlüftungsanlage geben dem Zimmer den Charme eines Maschinenraums unter Deck. „Das“, sagt William, „ist meine Schutzzone. Hier fühle ich mich absolut sicher.“

Verstehen mag das erst, wer weiß, wovor der Sechzehnjährige weggelaufen ist: vor seinen Lehrern und Mitschülern in seiner alten High-School im New Yorker Stadtteil Queens. Dort saß er eines Tages im Biologie-Unterricht. Thema: Homosexualität. Die Stunde geriet zum Lacherfolg für den Lehrer, der seiner Klasse Anekdoten aus seiner Jugend erzählte. Damals, als er sich mit Kumpels einen Spaß daraus machte, „Tunten aufzuklatschen“. Die meisten Schüler quittierten dies mit Johlen und Klatschen. Spätestens von diesem Moment an war William Bogebin klar, daß er sich auf feindlichem Territorium befand. Rückzug gab es für ihn damals nur in eine Richtung. „Ich bin kaum noch in die Schule gegangen. Meine Noten wurden immer mieser. Ich hab' mich einfach total isoliert.“ Dann hält er kurz inne, als müsse er überlegen, ob er diese Information preisgeben will. „Es ging bis zum Punkt, wo man an Selbstmord denkt.“

Einer Schulberaterin fiel Williams Verhalten auf. Sie zitierte ihn in ihr Büro und hakte die übliche Checkliste für auffällige Jugendliche ab. Drogenprobleme? Ärger mit den Eltern? Streß mit der Freundin? Dreimal Kopfschütteln. Schließlich blieb nur noch eine Frage übrig: „Bist du schwul?“ Kopfnicken.

Mag sein, daß die Sozialarbeiterin von der Geisteshaltung des Biologielehrers und anderer Kollegen wußte. Jedenfalls kam sie zu der Überzeugung, daß dem Jungen an dieser High-School nicht zu helfen war. Sie drückte ihm eine Adresse und Telefonnummer in die Hand. „Da gibt's in Manhattan eine Schule für lesbische und schwule Jugendliche“, sagte sie. „Sieh zu, daß sie dich da aufnehmen.“

Seit einem Jahr ist William Schüler der „Harvey Milk School“, einer Einrichtung des Hetrick Martin Institutes, einer Beratungsstelle für homosexuelle Jugendliche. Seine Noten haben sich ebenso rapide verbessert wie seine psychische Verfassung, was er dem einfachen Umstand zuschreibt, daß „ich mich hier aufs Lernen konzentrieren kann. Ich muß keine Angst haben, verprügelt zu werden.“ Er selbst ist noch nie attackiert worden, aber das verleiht ihm etwa soviel Unbefangenheit, wie sie Frauen empfinden, die noch nie vergewaltigt worden sind. „Einfach Glück gehabt“, sagt er.

Davon abgesehen, sind die Biographien und der Alltag vieler KlassenkameradInnen warnender Beweis der permanenten Gewaltbereitschaft gegen Homosexuelle. Da ist die Geschichte von Paul, der aus seiner Heimatstadt in Ohio flüchtete, nachdem ihn Klassenkameraden in der Schultoilette als „schwule Sau“ beschimpften, seinen Kopf gegen das Klobecken stießen, seine Arme mit brennenden Zigaretten verbrannten und drohten, ihn umzubringen. Wenig später wurde er auf dem Fahrrad vorsätzlich von einem Laster umgefahren. Paul lag mehrere Monate im Streckbett.

Da ist die Geschichte von Eddie aus New York, dessen Eltern eines Tages von einem Lehrer die Mitteilung erhielten, ihr Sohn benehme sich in der Schule „wie ein Schwuler“. Eddie wurde ein Jahr lang zu Hause eingesperrt, über mehrere Wochen hinweg an einen Heizungskörper gekettet, vom Vater sexuell mißbraucht und schließlich gezwungen, auf der 42. Straße auf den Strich zu gehen.

Da ist die Geschichte von Mary Hanson, die nach eigener Auskunft nur selten angepöbelt wird, „wahrscheinlich, weil ich so normal aussehe“. Mary trägt Rock, Lackschuhe und lange Haare, was sie in den Augen der meisten heterosexuellen Amerikaner tatsächlich für die „Girl Scouts“ qualifizieren würde. Letzte Woche war das nicht normal genug, als die siebzehnjährige von einer Clique männlicher Jugendlicher aus dem U-Bahn-Zug gejagt wurde, weil sie mit ihrer Freundin Hand in Hand ging.

Und da ist die Geschichte des Mannes, nach dem die Schule am Hudson River benannt ist: Harvey Milk, San Franciscos erster offen schwuler Stadtrat. 1978 wurde er zusammen mit dem Bürgermeister von einem politischen Rivalen im Rathaus erschossen. Doch Milk ist seitdem weniger Märtyrer denn Symbolfigur der Schwulen- und Lesbenbewegung in den USA geworden. „Ich bin stolz, auf eine Schule mit diesem Namen zu gehen“, sagt William, und Mary, die mit dem Namen vor allem ihr geliebtes Schul-T-Shirt verbindet, ist fest davon überzeugt, daß ohne die Schule genau das aus ihr geworden wäre, wogegen Milk am meisten gekämpft hat: ein orientierungsloses Bündel aus Selbsthaß und Selbstverleugnung.

Daß der Schulbetrieb in der West Street relativ unbehelligt verläuft, ist mehr dem Faktor Zeit als dem Umstand zu verdanken, daß es in Manhattan toleranter zugeht als in Queens oder Ohio. Die „Harvey Milk High School“ (HMHS) gibt es immerhin seit acht Jahren. Die christlichen Fundamentalisten, die bei der Eröffnung im April 1985 noch gegen diese Institutionalisierung der Sünde vor dem Unterrichtsgebäude demonstrierten, haben sich mittlerweile an ihre Existenz gewöhnt und mögen sich mit dem Wissen trösten, daß die Finanzen der HMHS die Gesamtzahl der SchülerInnen auf dreißig begrenzt.

Zudem ist die HMHS so einfach nicht anzugreifen, weil sie, zur Überraschung vieler, keine private Schule ist, sondern der Abteilung für alternative Schulen des „New York Board of Education“ untersteht – und damit offiziell anerkannt ist. Miete für die Räumlichkeiten sowie alle Beratungseinrichtungen für die Jugendlichen trägt das Hetrick Martin Institute durch Spendeneinnahmen. Die Stadt finanziert mit 130.000 Dollar jährlich Bücher, Mittagessen für die SchülerInnen und die Gehälter für das Lehrpersonal.

An der HMHS müssen die gleichen Abschlußprüfungen abgelegt werden wie an an allen anderen öffentlichen High-Schools in New York, und hier wird „genauso gelernt wie anderswo auch“, sagt Mary, und wieder insistiert sie auf dem Adjektiv „normal“. Vor zwei Jahren hatte die New York Times in einem an sich wohlwollenden Artikel den Schulalltag als therapeutisches Chaos für extrovertierte Problemkinder gezeichnet. „Danach hätte man meinen können, wir albern hier nur rum und schreiben unsere Tests mit Lippenstift“, schnaubt Mary. „Alles Quatsch.“

Auch auf seiten von Bürgerrechtsgruppen wie der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) stieß die HMHS anfangs auf Argwohn. Angesichts der faktischen Rassentrennung in den Schulen der meisten US-Großstädte hat das Zauberwort „Integration“ zwar viel von seiner Kraft verloren. Doch in den Augen traditioneller Bürgerrechtsgruppen ist jede Form von Segregation weiterhin weder juristisch noch politisch zu legitimieren. In New York war unter anderem am Widerstand der ACLU der Versuch gescheitert, eine Schule nur für schwarze männliche Jugendliche einzurichten. Mit der freiwilligen Segregation von homosexuellen Jugendlichen, so die Argumentation im Fall der Harvey Milk High School, würde die Schulbehörde der Verantwortung enthoben, homosexuelle Kinder an allen Schulen zu integrieren. Außerdem verlören die Jugendlichen jeden Kontakt zum Mainstream, dem sie irgendwann doch wieder ausgesetzt seien.

Für die SchülerInnen an der HMHS sind solche Argumente dogmatische Trockenübungen von Leuten, die nicht wissen, was es heißt, mit dem Stigma der Homosexualität jeden Morgen den Spießrutenlauf an einer „normalen“ Schule zu beginnen. „Mir wäre es auch lieber“, sagt Mary, „daß eine Schule wie diese bald überflüssig ist.“

Was den Kontakt zum Mainstream angeht, so halten das Hetrick Martin Institute und die Harvey Milk High School mehr Verbindungen aufrecht, als manchem im konservativen Teil dieses Mainstreams lieb ist. So werden zum Beispiel die Lehrpläne zur Aids- Aufklärung des Instituts in vielen New Yorker Schulen eingesetzt. Das löste bei der katholischen Erzdiözese Empörung aus, weil der Gebrauch von Kondomen laut Curriculum den SchülerInnen nicht nur empfohlen, sondern unter Zuhilfenahme einer Gurke auch demonstriert wird.

Für Mary und William kam der Tag, an dem sie an eine „normale“ High-School zurückkehrten – nicht als Schüler, sondern als teamer, die in einer Klasse von Vierzehnjährigen eine Unterrichtsstunde zum Thema „sexuelle Orientierung“ gestalten sollten – ein Angebot des Hetrick Martin Intitutes, das zahlreiche New Yorker Schulen in Anspruch nehmen. Mit der Kreide schrieb William das Wort „homosexuell“ an die Tafel und forderte die Jugendlichen auf, freiheraus zu sagen, was sie mit diesem Begriff assoziieren. Er kann sich heute noch an einige der Antworten erinnern, die den Jüngeren ganz unbefangen über die Lippen kamen: „schwule Sau“, „Arschficker“, „Abschaum“. Nach diesem Crashkurs durch homophobische Obszönitäten und einer längeren Diskussion über deren Herkunft gaben sich William und Mary als Homosexuelle zu erkennen. „Da blieb ihnen der Mund offen stehen“, sagt William. „Und es war ihnen natürlich fürchterlich peinlich.“

Der Überraschungseffekt ist geplant und funktioniert bei den Jugendlichen, von denen die meisten noch nie wissentlich mit Schwulen und Lesben ein Wort gewechselt haben. Am Ende der Stunde soll im Idealfall die ebenso banale wie revolutionäre Erkenntnis stehen, daß auch Schwule und Lesben normale Menschen sind. William ist schon zufrieden, wenn am Ende nur einer nach vorne kommt und ihm die Hand schüttelt. Ihn beeindruckt vielmehr, daß er inzwischen überhaupt die Courage hat, sich immer wieder dieser Prozedur auszusetzen. Soviel Selbstbewußtsein ist ein Resultat von zwölf Monaten auf der Harvey Milk High School – und es mag am Ende schwerer wiegen als der bessere Notendurchschnitt.

Das Etikett eines politischen Aktivisten im Dienst der Schwulen- und Lesbenbewegung weisen Mary und William dankend und entschieden zurück. Bei dem Wort Aktivismus rollt sie die Augen und denkt an „Act Up“ und andere radikale Schwulen- und Lesbengruppen, die sit-ins und die-ins organisieren oder sonntags Kirchenbesucher mit Kondomen bewerfen. „Man muß mit den Leuten reden. Sie fühlen sich von Homosexualität bedroht, also ist es Blödsinn, ihnen noch mehr Angst einzujagen.“

Wie bedroht, das zeigt seit Monaten die Debatte um das „Rainbow Curriculum“, einen stadtweit verbindlichen Lehrplan, in dem nicht nur ethnische Toleranz, sondern auch die Gleichberechtigung homosexueller Lebensgemeinschaften propagiert wird. Über das Curriculum ist inzwischen der Vorsitzende des New Yorker Schulausschusses gestolpert, es hat Nachbarschaften und Lehrerkollegien gespalten – und eine Einigung ist immer noch nicht in Sicht.

Der harte Kern der Opposition sitzt im konservativen Schuldistrikt 24 in Queens, wo auch William wohnt. Es sind seine Nachbarn, die vor den laufenden Kameras der lokalen Fernsehstationen eine „Verschwörung der Homosexuellen“ wittern, die Entlassung schwuler und lesbischer LehrerInnen fordern und die Beschäftigung mit Kondomen in der Schule für Sünde halten. So stark fühlt sich William noch nicht, daß er sich auch mit ihnen auf Diskussionen einlassen würde. „Ich ignoriere sie und vermeide Gespräche.“

Mary sitzt daneben und hat ganz plötzlich ihr Girl-Scout-Charisma abgestreift. „Haß mag ja etwas Irrationales sein. Aber wenn ich Leute sehe, die mir das Recht absprechen, glücklich zu sein und in Ruhe leben zu können, dann krieg' ich einen Haß.“ In solchen Momenten hilft nur eines: „Meine eigene Insel schaffen – nur mit lesbischen Frauen. Und du“, sagt sie zu William, „kannst auch kommen. Mit ein paar Freunden.“ „Du spinnst“, entgegnet der. „Das ist total isolationistisch.“ „Na und, man wird doch noch träumen dürfen ...“