In Kopenhagen will keiner zurücktreten

Eine Woche nach den Polizeischüssen auf DemonstrantInnen beginnt eine zweite Untersuchung / Wieder ist die Polizei selbst beteiligt / Autonome rüsten für Demonstration beim EG-Gipfel  ■ Von Dorothea Hahn

Berlin (taz) – Eine Woche hat es gedauert, bis die dänische Regierung eine erste – und zaghafte – politische Konsequenz aus den Polizeischüssen auf DemonstrantInnen zog: Am Mittwoch abend kündigte Justizminister Erling Olsen an, er werde eine „Untersuchung des gesamten Ereignisses“ einleiten. Gemeinsam sollen Polizeibeamte und ein Anwalt der Regierung prüfen, was in der Nacht vom 18. auf den 19. Mai im Kopenhagener Stadtteil Nörrebrö geschah.

Es werde eine „umfassende Untersuchung“, beruhigte Sozialdemokrat Olsen die Jahresversammlung der dänischen Polizeigewerkschaft, vor der er die Nachricht bekanntgab. Nicht allein das Verhalten der Polizei sei Gegenstand, sondern die Entwicklung der gesamten Nacht – vom Beginn der Demonstration über die Steinwürfe bis hin zu den Schüssen.

Bislang liegt lediglich ein polizeiinterner Bericht über die Auseinandersetzungen im Anschluß an das zweite dänische Maastricht- Referendum vor, der vor Ungereimtheiten nur so strotzt. So ist in dem am Montag veröffentlichten Bericht von einer einzigen Stelle in der Demonstration die Rede, von der aus 34 Polizeibeamte insgesamt 96 Schüsse abgegeben hätten. Private Fernsehsender haben jedoch Videos gesendet, die zeigen, daß die Polizei von mindestens zwei Stellen aus schoß.

Der Polizeibericht rechtfertigt nachträglich den Einsatz, der nur durch Zufall keine tödlichen Folgen hatte, und begründet die Schüsse damit, daß die Polizei kein Tränengas mehr hatte und durch steinewerfende DemonstrantInnen „in einer lebensbedrohlichen Situation“ gewesen sei. Bei der Vorstellung des Berichtes hatte Justizminister Olsen einräumen müssen, daß Zivilpolizisten Pflastersteine gegen Demonstranten geworfen hätten. Er äußerte sich jedoch nicht zu Augenzeugenberichten, wonach aus den Reihen der Zivilbeamten entgegen den geltenden Regeln Kommandos zum Schußwaffeneinsatz an die – meist wesentlich jüngeren – uniformierten Polizisten gegeben worden seien.

Zahlreiche Fragen sind weiterhin offen. Zum Beispiel, wie viele Schüsse direkt auf die Menschenmenge gerichtet und wie viele in die Luft gefeuert wurden. Auch konnte bislang niemand erklären, warum die Polizei zwei Demonstranten in den Bauch und einen in den Kiefer traf, obwohl der Befehl angeblich lautete, auf Beine und Arme zu schießen.

Als erwiesen sieht der Bericht an, daß 78 Polizisten bei den Auseinandersetzungen verletzt wurden. Der letzte von ihnen wurde bereits am folgenden Tag aus dem Krankenhaus entlassen. Bis heute sind jedoch zahlreiche Beamte krank gemeldet und können deshalb angeblich auch keine Aussage machen. Auf seiten der DemonstrantInnen gab es elf Schußverletzte.

Zunächst waren alle verletzten DemonstrantInnen pauschal verhaftet worden. Dieser Beschluß mußte jedoch am Wochenende aufgehoben werden. Momentan befinden sich nach Angaben von Kopenhagener Autonomen acht Personen wegen der Anti-Maastricht-Demonstration in Haft. Auf eine Entschuldigung oder zumindest Betroffenheit seitens der verantwortlichen Politiker warten die Opfer bislang vergeblich.

Direkt nach der Demonstration hatten Sprecher der dänischen Polizeigewerkschaft eine Aufrüstung mit Distanzwaffen angekündigt. Ihr Wunsch nach Wasserwerfern, die es in Dänemark bislang nicht gibt, wurde von der Regierung vorerst abgelehnt.

In der dänischen Öffentlichkeit, die nach der nächtlichen Straßenschlacht zunächst wie gelähmt war, mehrt sich inzwischen der Ruf nach Rücktritten der verantwortlichen Politiker – allen voran Justizminister Olsen. Juristen fordern unterdessen eine unabhängige parlamentarische Untersuchung der Ereignisse.

Dänemarks Autonome fühlen sich fatal an einen Zusammenstoß vor zwei Jahren erinnert. Damals schoß die Polizei auf einen jungen Mann, der seither im Koma liegt. An ihn erinnert der Schlachtruf „Rache für Benjamin“.

Nach der Straßenschlacht der vergangenen Woche gründete sich eine „Initiative des 18. Mai“, die jetzt bereits die nächste Aktion gegen die Europäische Union und die kapitalistische Entwicklung überhaupt vorbereitet. Am 21. und 22. Juni dieses Jahres, wenn sich in Kopenhagen die Staats- und Regierungschefs der zwölf EG-Länder zum Gipfel treffen und internationale Medienpräsenz garantiert ist, wollen die Autonomen erneut auf die Straße gehen.

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