Der Preis für die Einheit ist Kahlschlag

Mit Kaviar zum Frühstück dürfen Sozialhilfe- Empfänger künftig nicht mehr rechnen. Nach der permanenten Krisenoperation Haushalt schenkt der oberste Kassenwart den Bürgern endlich reinen Wein ein: Das Wirtschaftswunderland ist pleite, da bleibt nur die Streichung von Leistungen.

Die Akteure waren durchweg in bester Form, in weit besserer jedenfalls als die öffentlichen Kassen, um die es gestern im Bundestag ging. Offiziell stand das Föderale Konsolidierungsprogramm (FKP) auf der Tagesordnung – „in dieser Woche des Probelaufs einer großen Koalition“, wie Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen bemerkte. Doch die Eintracht zwischen Union und SPD hat keine zwei Monate gehalten: „Das ist kein Solidarpakt! Zwischen dem föderalen Konsolidierungsprogramm und einem wirklichen Solidarpakt liegen Welten!“ urteilte der stellvertretende SPD- Fraktionsvorsitzende Rudolf Dreßler. Niemand sah sich veranlaßt, heftig zu widersprechen. Denn bereits vor Beginn der Debatte im Wasserwerk stand fest, daß die Beteiligten an den Verhandlungsrunden im März von den Zwängen der Wirklichkeit längst überholt waren. Am Dienstag hatte Finanzminister Theo Waigel in aller Deutlichkeit bestätigt, daß ab 1994 weit über das im FKP verabredete Maß hinaus gespart werden muß. Und zwar gerade da, wo die SPD ihre Verdienste sieht: Die neue 20-Milliarden-Liste aus dem Hause Waigel sieht kräftige Einschnitte bei den Sozialleistungen vor, Arbeitslosen- und Unterhaltsgeld sollen gesenkt und das Zweitkindergeld gekürzt werden. 1994 soll eine Nullrunde für die Beamten stattfinden, die Sollstärke der Bundeswehr herabgesetzt werden. Der Berlin-Umzug könnte verschoben werden.

Das Motto im Finanzministerium lautet: keine Tabus, weshalb sogar die Renten im Gerede sind. Da aber soll der Kanzler interveniert haben. Der vorhersehbare Hintergrund: Die Steuerschätzungen liegen jetzt vor, und sie sind verheerend ausgefallen, wie übrigens im März schon vermutet wurde. Doch weil damals alle einen Erfolg wollten, wurden darüber nur ganz leise gesprochen.

Otto Graf Lambsdorff, Vorsitzender der FDP, Theo Waigel, Finanzminister und CSU-Chef, und für die sozialdemokratische Opposition Helmut Wieczorek und Rudolf Dreßler kreuzten die Klingen ganz prinzipiell. Lambsdorff: „Deutschland ist wirtschaftlich zu teuer, zu unbeweglich, zu statisch, zu wenig unternehmerisch, zu wenig dynamisch geworden. In unserem Denken rangiert die Sicherheit vor Risiko, dominieren Urlaubswünsche, Freizeit und kürzere Arbeitszeiten.“ Fazit: „Die Deutschen leben über ihre Verhältnisse.“ Sein Therapievorschlag: eisernes Sparen bei den Staatskassen. „Und dies erreichen wir nur, wenn an die großen Posten herangegangen wird. Der Subventionsabbau bleibt auf der Tagesordnung. Wir kommen um den Abbau der Sozialleistungen nicht herum.“ Der Verfasser des Wende-Papiers von 1982: „Das ganze System ist zu teuer geworden und wirkt lähmend auf die wirtschaftliche Aktivität.“ Seine Forderung: günstigere Bedingungen für Investitionen, die innovativ wirken. Der Graf setzt auf „den schmerzhaften Prozeß zu neuer Produktivität durch neue Techniken“.

Einen Akt beispielloser „Piraterie“ plane die Regierung, die „Ausplünderung der kleinen Leute“, prangerte dagegen Helmut Wieczorek die Meldungen über Waigels Sparabsichten an. Gestern stand die SPD-Fraktion hinter ihren Rednern, die zu geradezu fulminanter Form aufliefen. Staatsverschuldung wie noch nie, soziale Ungerechtigkeit ohnegleichen, Ja zum Sparen, aber an anderen Stellen. Zehn Punkte, die im März vorgelegen haben, rasselte Dreßler herunter: Abbau von Subventionen und Steuervorteilen aller Art, die sich auf 10,8 Milliarden belaufen. Dreßler wiederholte die sozialdemokratische Formel: „Diese Bundesregierung muß endlich die Wahrheit sagen, die Wahrheit über die wirtschaftliche, die finanzielle und die soziale Lage in Deutschland.“

Die allerdings hatte Theo Waigel gerade zuvor in aller Deutlichkeit ausgebreitet. So, als habe diese Bundesregierung nie falsche Erwartungen und Hoffnungen geweckt, verkündete der Finanzminister: „Aber wir werden unseren Preis für die Einheit zahlen müssen, und ohne Schweiß wird es auch nicht abgehen.“ Weiter: „Aus internationaler Sicht erscheint Deutschland – um es mit aller Härte zu sagen – als übersättigt. Das ehemalige Wirtschaftwunderland, der Klassenprimus und das auch selbst genannte Vorbild muß sich anstrengen ... Es geht um ein völlig neues Denken und Handeln aller Deutschen ... Deshalb wird es im Wahljahr 1994 keinen Haushalt der Versprechen geben – es sei denn, das eine Versprechen: Es gibt nichts zu verteilen.“

Es ist lange her, vielleicht sogar einmalig, daß Waigel den beinah stürmischen Beifall der beiden Regierungsfraktionen erntete. Tissy Bruns, Bonn