Kieler Abschied vom Ausstieg

■ SPD-Landesregierung auf Schmusekurs mit der Atomwirtschaft / Bonner Genossen sauer

Berlin (taz) – Der Ausstieg aus dem Ausstieg: Die Kieler SPD-Landesregierung versucht derzeit, alle anderen SPD- regierten Länder vom Ausstieg aus der Atomkraft abzubringen. „Als äußerste Kompromißlinie wird eine Einzelbetriebszeit von 25 Jahren pro Kernkraftwerk akzeptiert“, heißt es in einem der taz vorliegenden Arbeitspapier für die Energiekonsensgespräche. Das jüngste deutsche Atomkraftwerk Neckarwestheim 2 würde danach – wie auch aus einem Anhang hervorgeht – im Jahre 2014 abgeschaltet. Keine Rede ist in dem Kieler Papier, das am Dienstag den anderen SPD-regierten Ländern vorgestellt wurde, vom Nürnberger Ausstiegsbeschluß der SPD. Die Partei hatte sich nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 festgelegt, innerhalb von zehn Jahren aus der Atomkraft auszusteigen.

Die 25 Jahre Betriebszeit stellen für die Verfasser des Papiers im Kieler Sozialministerium nicht die Obergrenze der Betriebsdauer deutscher AKW dar. Einzelne Atommeiler wie Grohnde, Krümmel, Brokdorf, Neckarwestheim 2 und Gundremmingen C könnten auch „entsprechend länger betrieben werden“, wenn die ältesten Atomkraftwerke dafür früher abgeschaltet würden.

Der Kieler Vorstoß zielt nicht nur auf den Abschied der SPD vom Ausstieg, er birgt auch erheblichen Sprengstoff für die rot-grüne Koalition in Niedersachsen. Das niedersächsische Endlager Schacht Konrad für mittelradioaktiven Müll „soll in Betrieb genommen werden“, heißt es in der Vorlage. In Gorleben soll der Erkundungsbetrieb für ein Endlager für hochradioaktiven Müll bis zum Jahr 2005 „trotz absehbarer Nichteignung“ weitergehen können. Beide Atommüllager sollen nach der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Grünen verhindert werden. Das Wirtschaftsmagazin Capital hatte schon im März berichtet, daß Parteichef Engholm vom Ballast des Nürnberger Ausstiegsbeschlusses befreit werden wollte.

Das Kieler Finanz- und Energieministerium distanzierte sich gestern von dem Papier aus der eigenen Landesregierung. Das Papier, das nach Informationen der taz nur andiskutiert worden war, sei unter dem Vorsitz des schleswig-holsteinischen Finanz- und Energieministers Claus Möller „verworfen worden“, hieß es in Kiel.

Insbesondere lehne die Landesregierung auch weiter „eine Option auf neue Kernkraftwerke strikt ab“. In der Vorlage werden dagegen nur „deutlich schärfere Sicherheitskriterien“ für neue Reaktoren gefordert. „Eine neue Generation von praktisch inhärent sicheren Reaktoren“ hatte kürzlich auch der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, der SPD-Politiker Wolfgang Clement, für möglich erklärt.

Ein solch neuer Reaktor sollte nach dem Kieler Papier maximal einmal in 100 Millionen Jahren einen Unfall verursachen, der zu einer Strahlenbelastung von 5 rem im Umkreis des Atommeilers führt. „Das war die Unfallwahrscheinlichkeit, die man auch für den Reaktor Biblis B schon erreichen wollte“, so Christian Küppers vom Öko-Institut. Dieser Rechentrick sei allerdings nicht aufgegangen.

Der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion lehnte das Kieler Konzept auf Anfrage der taz gänzlich ab. „Ich stehe zum Nürnberger Beschluß“, sagte Michael Müller. Die Überlegungen aus Kiel würden nur zur „Verunsicherung der Partei“ beitragen. Nicht einmal die hohen Anforderungen an einen neuen Reaktor finden vor Müllers Augen Gnade. Ein Ausstieg über Sicherheitsvorschriften: „Das wäre die technische Lösung einer politischen Frage – das macht man nicht.“ Hermann-Josef Tenhagen Seiten 6 und 10