Mit nur 3.000 Mark minus ins Bodenlose stürzen

■ Immer mehr Ostbürger geraten unverschuldet in finanzielle Not / Schon geringe Schuldensumme führt in die Zahlungsunfähigkeit / Leben von 200 Mark im Monat

Richtig schuld war eigentlich niemand. Hans Koch nicht, sein Arbeitgeber nicht, und auch nicht sein Geldinstitut. Und doch war der 49 Jahre alte Handwerker schließlich so verzweifelt, daß er sich beinahe das Leben genommen hätte. Hans Koch ist überschuldet; mit einem Betrag allerdings, der einem Bankangestellten im Westen nur ein müdes Lächeln entlocken würde – mit 3.000 Mark.

Begonnen hatte alles damit, daß sein Chef zwei Monate lang keinen Lohn zahlte. Weil Kunden ihre Rechnungen schuldig blieben, stand dem Kleinbetrieb das Wasser bis zum Hals. Hans Koch überzog deshalb sein Girokonto; nur vorübergehend, wie er glaubte. Bei 2.700 Mark minus allerdings kündigte die Bank den Dispokredit; die nächste Lohnüberweisung von 1.500 Mark rechnete sie sofort gegen die Schulden auf. Mit kaum noch Geld in der Tasche wandte sich Hans Koch ans Sozialamt, dort reichte man ihn weiter zur Schuldnerberatung.

Hans Koch (Name von der Redaktion geändert) ist kein Einzelfall: Immer mehr Ostbürger werden von ihren Schulden erdrückt. Kaufrausch oder Konsumwut sind allerdings immer seltener die Ursache. „In drei Viertel unserer Fälle ist der Grund das geringe Einkommen“, schätzt Detlev Sander von der Schuldnerberatung Julateg in Hohenschönhausen.

Dazu kommen die im Osten rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten, die in vielen Bereichen längst auf West-Niveau liegen. Die 30jährige Alleinerziehende, die wir hier Sabine Schibowski nennen, überwies vor drei Jahren noch rund 80 Mark Miete; seit Januar sind über 600 Mark fällig. Bei ihrer Arbeit als Kellnerin verdient sie im Monat um die 1000 Mark. Scheibchenweise hat sie deshalb den Dispo in Anspruch genommen; nach dessen Kündigung durch die Bank und einem gerichtlichem Mahnverfahren bewegt sich ihr Schuldenstand nun auf die 4.000 Mark zu. Sabine Schibowski weiß weder ein noch aus. „Gerade Leute mit geringen Schulden machen sich oft unheimliche Sorgen“, sagt Schuldnerberater Sander. „Die Tragik, die an diesen Fällen hängt, ist ungeheuer.“

Eine Schuldner-Karriere im Osten beginnt häufig fast unmerklich: mit Versandhaus-Bestellungen, mit Unterschriften an der Haustür, mit Versicherungspolicen und mit „anderen kleinen Dinge, die sich zusammenläppern“. Das sagt Heribert Newrzella, der im Büro des Deutschen Familienbunds im Scheunenviertel Schuldner berät. Nach seiner Erfahrung ist der Dispo-Kredit „für viele im Osten der typische Weg in die Verschuldung“.

Ein gekündigtes Girokonto hat aber unangenehme Folgen. Zum einen werden enorme Zinsen fällig, die in der Regel bei 18 oder 19 Prozent liegen. Zum andern führt das Geldinstitut keine Überweisungen mehr durch. Da er jetzt einen entsprechenden Negativeintrag bei der Schufa hat, erhält Hans Koch derzeit auch bei keiner anderen Bank ein Girokonto. Den Lohn zahlt ihm sein Chef jetzt bar; Miete und EBAG-Rechnungen begleicht Hans Koch per Bareinzahlung – pro Auftrag kostet ihn das vier oder fünf Mark extra.

Allein das Leben ohne Konto sei ein sozialer Abstieg, heißt es bei Julateg in Hohenschönhausen. Schon bevor sie Schulden machten, kämpften einige der Klienten ums finanzielle Überleben. Von den knapp 200 Einzelpersonen und Familien, die man in den letzten zwölf Monaten beraten hat, lag nur in zwei Fällen das Einkommen über der Pfändungsfreigrenze. „Manchmal leben zwei oder drei Menschen von 200 oder 250 Mark im Monat. Wie die das schaffen, ist uns ein Rätsel“, sagt Schuldnerberater Sander.

Die kreditunerfahrenen Ostbürger treffen im Gegensatz zu Westlern häufig eine Entscheidung, die die Beratungsstellen für fatal halten: Bedient werden zuerst Banken und andere Gläubiger; Miete und Energierechnungen dagegen werden nicht mehr bezahlt. Heribert Newrzella vom Familienbund hat schon erlebt, daß Wohnungen dann geräumt werden mußten.

Soweit muß es nicht kommen. Die Mietschulden übernimmt oft das Sozialamt, und häufig besteht ein Anspruch auf Wohngeld, Kindergeldzuschläge oder ergänzende Sozialhilfe. An eine Rückzahlung des geliehenen Betrags ist meist nicht zu denken, und durch die Zinsen türmt sich der Schuldenberg höher und höher. Für viele beginnt so ein neues, beim ersten Schuldenmachen nie für möglich gehaltenes Leben: ein Dasein im Schutz der Pfändungsfreigrenze. „Was wir hier machen“, sagt Detlev Sander, „ist nicht Schuldner-, sondern Armutsberatung.“ Bernhard Landwehr