Zweimal täglich Metamorphose

Im U-Bahnnetz kreuzen sich Linien und Lebenswelten, Rasanz und Langeweile  ■ Von Barbara Lang

Es war nicht weniger als der „Anbruch einer neuen Epoche“, den die Vossische Zeitung am 15. Februar 1902 mit der Eröffnung der Berliner U-Bahn vermeldete. Tatsächlich: Die Eröffnung der ersten deutschen Untergrundbahn – nach London 1863 und Paris 1900 – war mehr als die Inbetriebnahme eines neuen Verkehrsmittels, sie war die Eroberung einer bisher unbekannten Dimension der Metropole.

Der Bau der Berliner U-Bahn steht beispielhaft für den umfassenden Wandel der Wahrnehmungen, wie er sich um die Jahrhundertwende im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung vollzog. Die Fahrt durch den „Bauch der Stadt“, der Zugverkehr im Zwei-Minuten-Takt, das schnelle Tempo der Fortbewegung, die unterirdischen U-Bahnhöfe, ausgestattet mit Imbißbuden, Zeitungskiosken und Rolltreppen, das Seite an Seite mit Fremden im engen U- Bahnwagen – all dies verkörperte Beschleunigungsvorgänge und Fremdheitserlebnisse in der Großstadt.

Auch heute noch findet für die 2,3 Millionen Passagiere, die täglich die Berliner U-Bahn benutzen, mit dem Betreten der U-Bahnstationen, beim Wechsel von oben nach unten und von hell zu dunkel, ein Übergang zu anderen Wahrnehmungsdimensionen statt. Unter der großen Stadt fehlen Ausblicke auf die Fassaden und Hinterhöfe Berlins. Während der Fahrt im 134 km langen Verkehrsnetz gibt es keine Überblicke, auch keine Einblicke in die Schaufenster von „Wertheim“ und „KaDeWe“. Überhaupt sind Abwechslung und Ablenkung spärlich gesät. Unter Grund hört man den Lärm der Straßen nicht mehr, Pflanzen gedeihen hier unten nicht, und die vielfältigen Gerüche der Großstadt weichen einem undefinierbaren Einheitsmief.

Metamorphosen

Beim Betreten der U-Bahn vollziehen die Passagiere eine Art Übergangsritual zwischen unterschiedlichen Rollen: vom Berufsleben zum Privatleben, vom Familienvater zum Vereinsmitglied, von der braven Tochter aus gutem Hause zum Enfant terrible der Szene. Die Verbindungsgänge und Rolltreppen markieren den ungreifbaren Moment, in dem die Benutzer von einer Welt in die andere übergehen. Als „zweimaltägliche Metamorphose“ bezeichnet deshalb Christopher, ein Gymnasiast in Julian Barnes' Roman „Metroland“, die Fahrt mit der Untergrundbahn: Am einen Ende wirkt er verantwortungsbewußt, ordentlich und arbeitsam – am anderen Ende kommt Christopher mit abgelatschten Schuhen, schiefhängender Krawatte aus dem Wagen geschlurft, ist faul und großmäulig. Auch bei Max Frisch tauscht Felix Gantenbein just in dem Augenblick, als er die U-Bahnstation betritt, die Rolle des Sehenden mit der des Blinden. Hier setzt Gantenbein die Blindenbrille auf, wirft das Taschenbuch in einen Papierkorb und benutzt seinen Stock wieder zum Klöppeln.

Untergrund – Kunterbunt

Wo umherschweifende Blicke vergeblich nach Weite suchen, sich im Dunkeln der U-Bahntunnel verlieren, an grauen Betonwänden abprallen oder von den Scheiben des Waggons reflektiert werden, konzentriert sich die Wahrnehmung auf das wenige Sichtbare: die anderen. Im U-Bahnwagen werden Augenblicke in ihrem eigentlichen Wortsinn erlebt: schüchterne Eroberer tauschen Blicke mit brachliegender Weiblichkeit, der Augenaufschlag der gegenübersitzenden Femme fatale läßt für Momente das Herz des Familienvaters höher schlagen. Die Liebe zum Passanten ist eine Erfahrung, die erst durch beschleunigte Bewegungsformen möglich wurde, und aus verzweifelten „Wanted-Annoncen“ spricht die Sehnsucht, diesen flüchtigen Momenten Dauer zu verleihen ... „Samstag, 22.6., 12.30 Uhr, U-Bahn, Kottbusser Tor – Nollendorfplatz. Du Blond, gelbes Shirt, schw. Jeans, ich auch blond mit Netz“ ...

Nicht nur die fehlende Aussicht, auch die Sitzanordnung in den Berliner U-Bahnwaggons legt die Konzentration auf die Mitfahrenden nahe: man sitzt sich gegenüber. Die Kabinen bilden einen fast vertraulichen, kommunikativen Rahmen, und die Fahrgäste sind aufeinander verwiesen wie die Teilnehmer einer geschlossenen Gesellschaft. Da man zudem für die Dauer einer Fahrt zum gemeinsamen Verweilen im Wagen verpflichtet ist, findet man hier Raum und Zeit, die anderen anzusehen, bekommt eine Vorstellung von anderen Lebensformen und von der Begrenztheit des eigenen Horizonts.

Im U-Bahnnetz überkreuzen sich Linien und Lebenswelten, werden Angehörige unterschiedlichster Stadtbezirke gemeinsam transloziert. Einzelne Linien, rot, grün und blau, dienen nicht nur der Fortbewegung – die Linien von Tegel nach Marienfelde und von Ruhleben zum Schlesischen Tor sind auch Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Milieus. In U-Bahnschächten hasten Autodiebe an Kfz-MechanikerInnen und ErzieherInnen an den Eltern ihrer Schützlinge vorbei; an der Imbißbude trinken Handwerker ein schnelles Feierabendbier, während neben ihnen zwei Verkäuferinnen ihre Fritten verzehren.

Während der Bewegung im unterirdischen Netzwerk werden unbekannte, separate Bezirke durchquert, und innerhalb des Wagens sitzen Angehörige unterschiedlicher Herkunft nebeneinander, gehen Bankangestellte und Punks, Familienmutter und Rockerbraut auf Tuchfühlung. Polyacryl und Lambswool, Baumwolle und Lurex, Jeans, mal stonewashed, mal schwarz gefärbt, Samt und Leder erzeugen Reibung. Mund-, Körper- und andere Gerüche vermengen sich mit auserwählten Düften zu einer undefinierbaren Mischung und die Leser von Tagesspiegel und BZ, taz und Berliner Zeitung erhalten kurze Einblicke in konkurrierende Leitartikel.

Derlei Begegnungen mit Fremden werden freilich nicht nur als angenehm empfunden, weshalb man wirksame Strategien zur Abwehr entwickelt: „Blicke ins Nirwana“, starr geradeaus oder – einfacher – zu Boden, Versteckspiel hinter Zeitungen, Lektüre nicht nur zum Zeitvertreib. Abkapselung hinter der akustischen Schallmauer des Walkmans, und wenn alles nichts hilft, werden die Augenlider geschlossen.

Vitesse oblige

Das Innere der U-Bahnwaggons bildet während der Fahrt eine Art Vakuum zwischen hier und dort, zwischen Zielen und Terminen, einen Nicht-Ort, irgendwo im unterirdischen Tunnel. Eine Fahrtstrecke lang befindet man sich außerhalb der gewohnten Lebenswelten, vielleicht auch jenseits hektischer Zeitsysteme, in denen das Gebot der Geschwindigkeit dominiert.

Ganz anders auf U-Bahnhöfen. Hier herrscht das Gesetz der Geschwindigkeit und macht die Menschen rasend. Die moderne Fortbewegungstechnik ersetzt den Aufenthalt durch den Wunsch, die Hemmnisse der Geographie zu tilgen.

Hinweisschilder, die eine stumme Sprache sprechen und doch eindeutig und allen verständlich sind, verkünden: „Hier geht's lang“. Sie sind die geheimen Lotsen, die die Benutzer auf andere Ebenen dirigieren, und zusammen mit der unermüdlichen Aufforderung durch die Sprecher der Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) machen sie den Anwesenden klar: Auf U-Bahnstationen ist man angekommen, um wegzufahren. Leise rasselnd fordern die unaufhörlich nach oben oder unten laufenden Rolltreppen dazu auf, sich weiterbefördern zu lassen und nicht durch langsames Treppensteigen Zeit zu verlieren. Auch hier kämen viele nicht zum Stehen, würden nicht Unverbesserliche den Weg versperren. „Links gehen, rechts stehen!“ lehren zwar auch hier Schilder, doch die Aufforderung findet in der Regel wenig Beachtung. Die Sprecher der BVG, deren Ansagen noch nicht durch körperlose Tonbandaufnahmen ersetzt wurden, arbeiten scheinbar ununterbrochen. Rund um die Uhr stehen sie in ihren Kabinen, bewahren den Überblick und melden kontinuierlich: „Möckernbrücke“ – „Einsteigen bitte“ – „Zurückbleiben“.

Geschwindigkeit wird auch beim Essen einverleibt. Auf U- Bahnhöfen findet man ausschließlich Schnellimbisse – Mahlzeiten für Vorübereilende. Von der zügigen Bestellung einer „Curry spezial“ über die Zubereitung bis zum Verzehr steht die gesamte Mahlzeit unter dem Zeichen möglichst raschen Tempos.

Die optimale Abstimmung von Raum und Zeit ist offenbar unabdingbares Gebot für die Bewegung im U-Bahnnetz, und die Routiniers unter den Benutzern sind an der Perfektion ihres Verhaltens innerhalb dieser Koordinaten zu erkennen. Akribisch wählen sie am Bahnsteig ihren Einstiegspunkt: sie wissen, welcher Wagen vor der Rolltreppe zum Halt kommen wird und ob sie am Zielbahnhof in oder gegen die Fahrtrichtung aussteigen müssen. Im Wageninnern werden innerhalb von Sekundenschnelle Sitzplätze aufgespürt, und bevor man sich darauf niederläßt, die Nebensitzer noch schnell taxiert. Noch während der Fahrt öffnen Insider die Türen, um möglichst als erste den Zug zu verlassen. Vitesse oblige.

„Fahr mal wieder U-Bahn, da ahnste, wie das Leben ist“

Die Berliner Untergrundbahn ist ein Trimm-Dich-Pfad der Geschwindigkeit, eine Herausforderung an sämtliche Sinne; ein Ort zur Sensibilisierung der Wahrnehmung und zur Abhärtung des Gemüts gleilchermaßen. Man lernt hinzusehen, wo es entscheidend ist, und wegzusehen, wo es belastend wird. Unangenehme Mitfahrer werden gemieden, auf U-Bahnhöfen sitzende Obdfachlose registriert – aber schon im nächsten Moment wieder ignoriert. Für abwechslungsreiche Blickfänge ist man offen, bei drohender Reizüberflutung starrt man dagegen ins Nichts. Die Begegnung mit Fremden und Fremdem führt die Begrenztheit der eigenen Lebenswelt vor Augen, man erhält eine Ahnung davon, wie anders das Leben sein kann.

Vielleicht atmen die Passagiere auch deshalb erleichtert auf, wenn sie das unterirdische Netzwerk verlassen: Endlich! – ist es wieder möglich, unerwünschten Begegnungen zu entgehen, indem man einfach die Straßenseite wechselt; endlich! – muß man sich belastenden Anblicken nicht mehr aussetzen, kann sein Augenmerk wieder auf Schaufensterauslagen richten. So bleibt, wie alles in der Berliner U-Bahn, auch jene kurzfristige Horizonterweiterung, die aus der Konfrontation mit Fremden erwuchs, eine flüchtige Erfahrung. Wenn man an den Haltestellen „Bismarckstraße“ oder „Sophie- Charlotte-Platz“ wieder das Tageslicht erblickt und eigenen, vertrauten Lebensraum erreicht, bleibt das Leben unter Grund zurück.