Stille Tage in Cliché

■ Neue Veröffentlichungen zur sinnlich -kulinarischen Beziehung zwischen Anais Nin und Henry Miller

In einem posthum veröffentlichten „Poesie“album mit Henry Millers gesammelten Einkaufszetteln plaudert Anais Nin, die Vorahnerin der Freifühlerkultur und femme banale der dreißiger Jahre, aus dem Nachtkästchen ihrer libido-literarischen Reifung.

11.1.32

Den ersten Einkaufszettel, den Henry Miller mir überreichte, mit akribischer Sorgfalt in mein büttenes Album geklebt. Seine Ansprüche sind von klassischem Zuschnitt:

Brot

Salz

Wein

Henry ruht in sich, trägt in sich seine eigenen Pole, von diesem Kraftzentrum aus nimmt er die Welt in Besitz. Und ich? Werde wie ein zitterndes Blatt durch das winterliche Paris geweht.

14.1.32

Henry steckt mir in der russischen Teestube mit verschwörerischer Miene einen Zettel zu. Bebend vor Erregung lese ich die hingeworfenen Zeilen:

Vin rouge

Brot

Salzheringe

Während Henry zu den Klängen der Balalaika Kasatschok tanzt, sich ganz dem Leben hingibt, denke ich, daß vielleicht slawisches Blut in seinen Adern kocht. Er kommt mir vor wie eine Figur aus Dostojewskis Romanen – vital, erdverbunden, sinnlich, keine Konventionen achtend – Rotwein zu Fisch! Oh Henry, laß mich teilhaben an der rasenden Orgie deines Lebens!

17.1.32

Für Henry einkaufen:

Brot

Bier (2 Fl.)

Leberwurst

Zwiebeln

Senfgurken (offen)

Mayonnaise

Henrys deutsches Element. Er liebt Gewöhnlichkeit, Schmutz, Verkommenheit, den Geruch von Eintopf, Armut und Abenteuer. Und von Prostituierten.

23.1.32

Mit zwei riesigen Tüten bepackt zu Henry nach Clichy (er spricht es wie Klischee aus – diese Amerikaner!)

Champagner, Krebse, Straßburger Terrine de foie, Austern ...

Ich freue mich über seine verschwenderische Fülle. Ich möchte ihm mit gleichem Überfluß vergelten. Gleichzeitig bleibt er sich selbst treu. Warum kann ich mein eigentliches Ich nicht so wie er ausdrücken? Ich spiele nur Rollen ...

8.2.32

Henry verschlingt Unmengen Tatar, das ich ihm aus Paris mitbringen muß. Danach liebt er mich, zum Dessert. Seine Zettel werden immer poetischer:

Coquilles de Cervelle

au Gratin

Flamri de Semoule

Galantine de Volaille

à la Gelée

Anguilles Pompadour

Selle de Mouton

Banquerottière

Ein reißender Strom von Realismus. Zuviel davon, zuviel Dynamik, zuviel Balzac. Ich möchte mitten ins Leben beißen und von ihm zerrissen werden.

13.2.32

Er ist ein Mann, der sich am Leben berauscht. Ich bewundere seine rhythmischen Hymnen, seinen vehementen, animalischen, prachtvollen Stil:

Anais, bring mir doch

100 Gramm gehackte

Hühnerleber, ja? Und viel-

leicht noch eine Ananas ...

Durch ihn werde ich nicht nur mehr Frau, sondern auch mehr Schriftstellerin, mehr Denkerin ...

27.2.32

Durchs Quartier gebummelt. Henry und ich aßen zu Mittag in einem malvenfarbigen Lokal mit sanftem, indirektem Licht, das uns mit samtener Verschwiegenheit umfing. Wir legten unsere Hüte ab. Wir aßen Würstchen und tranken Malventee. Wir sprachen in Halbsätzen, Viertelsätzen, die wir allein verstehen. Er bewundert Eleonora Duse, weil sie Schuhgröße 43 hatte. Was wollte er damit sagen? Daß ich zu kleine Füße habe, daß ich keine Duse bin, ihm keine Muse bin? Ist alles vorbei, ehe es richtig begann?

Mit einem Mal war der Zauber unserer Leidenschaft wie fortgeblasen. Der große Henry schrumpfte ganz zum kleinen Henry zusammen. Plötzlich vermag ich die Realität zu erkennen. Im Bois, als wir uns verabschiedeten, steckte er mir einen – letzten? – Zettel in den Zobel-Muff:

Alles was ich noch habe sind

20 penies und 30 centimes

Könntest du mir etwas

Kaviar besorgen?

Angeekelt von seinem männlichen Größenwahn (und seinen Rechtschreibfehlern) wandte ich mich ab. Eine Träne der Einsamkeit rann über meine, wie er einst sagte, alabasterne Wange ...

Rüdiger Kind