Für ein kurzes, stürmisches Leben

Die Moskauer „Libertinäre Partei“ tritt auch für die Legalisierung von Drogen ein / Die Freiheit des Individuums ist im weitesten Sinne ihr Ziel  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Irgendwann in der Grauzone vor dem August-Putsch 1991 stiegen vor dem Moskauer Hotel „Intourist“ aufgeblasene rosa Präservative in den Himmel. Dies war eine Aktion der „Libertinären Partei“: für die gesetzliche Zulassung der Prostitution, für Safer Sex und eine vernünftige Aids-Aufklärung in Rußland. Unerwarteterweise sammelte sich um das Spektakel ein Meer von Kameras. Die damalige Hauptakteurin Jewginija Debrjanskaja erinnert sich gern: „Das Echo war weltweit, und als ich wenig später – wie ich glaubte, zu einem kurzen Geschäftsbesuch– in den USA eintraf, stellte sich heraus, daß mir amerikanische Prostituierten-Gewerkschaften eine Reise durch das ganze Land spendiert hatten.“ Die Skandalnudel der Moskauer Szene ist eine distinguierte, zerbrechliche Dame um die Vierzig mit silberiger Igelfrisur. Sie ist auch die bisher einzige Adresse für alle, die mit russischen BefürworterInnen der Drogenlegalisierung Kontakt suchen.

Bei den bevorstehenden Wahlen möchte Jewgenija kandidieren, und zwar im Moskauer „Eisenbahner-Bezirk“, als Leiterin der „Unabhängigen Lesben- und Schwulen-Organisation“. „Die Leute sind dieselben, nur entspricht die ,Libertinäre Partei‘ einem etwas engeren Kreis, weil unter den Lesben und Schwulen bei uns noch viele gegen ein politisches Etikett sind“, erläutert die lesbische Mutter von zwei Söhnen. „Natürlich wurden wir vor fünf Jahren gleich als Schwulen-, Drogensüchtigen- und Prostituierten-Partei bezeichnet.“ Neben naheliegenden Zielen wie etwa der juristischen Absicherung homosexueller Lebensgemeinschaften und der in ihnen aufwachsenden Kinder haben die etwa hundert Moskauer „Libertinären“ die Freiheit des Individuums im weitesten Sinne auf ihre Fahnen geschrieben. Zu den Individuen zählen sie selbstverständlich auch die Tiere und treten daher gegen jegliche Zirkusdressur ein. Und politisch? Da sehen sie ihre Hauptaufgabe in der Verhinderung des Bürgerkrieges durch eine provisorische Koalitionsregierung der unterschiedlichsten politischen Kräfte. Trotzdem glaubt Jewgenija Debrjanskaja nicht gewählt zu werden: „Aber wenn wir den Äther für uns bekämen, wäre das schon viel!“

Und die Legalisierung des Drogenkonsums? „Wir haben ohnehin so viele Tabus gebrochen, und um von den einzelnen Punkten ein bißchen abzulenken, umgaben wir sie mit noch mehr Tabubrüchen“, lacht Jewgenija. „Der Mensch hat das Recht zu einer Wahl, wie sie Rainer Werner Fassbinder getroffen hat: lieber ein kurzes und stürmisches Leben als ein langes und standardisiertes. Selbstverständlich bin ich für ein System von Heil- und Vorbeuge-Einrichtungen für Leute, die finden, daß ihr Drogenkonsum sie am Leben hindert. Sie wissen von den sogenannten Narkom-Zonen für Süchtige bei uns? Das sind praktisch Straflager unter der Ägide des Innenministeriums mit Patrouillen, Zwangstherapien und Zwangsarbeit. Selbstverständlich wird dort niemand geheilt. Im Gegenteil: Sie bilden die Klippschulen für Anfänger im Drogengeschäft. Daneben existieren psychiatrische Spezialkliniken. Sie unterstehen neuerdings dem Gesundheitsministerium. Aber die Sanitäter sind noch die alten: Militärs, die man in weiße Kittel gesteckt hat und die mit den Leuten unwahrscheinlich grausam verfahren; im Unterschied zu den Narkom-Zonen, in die man für – oft mehrjährige – ,Fristen‘ eingeliefert wird, ist der Aufenthalt dort zeitlich nicht limitiert. Jederzeit kann ihn ein Attest verlängern.“

Jewgenija erzählt: „In meiner Kindheit konnte sich meine Großmutter ihren Bauerngarten ohne Mohn zum Kuchenbacken nicht vorstellen. Eines schönen Tages wurde das Pflanzen von Mohn generell verboten. Natürlich existieren wilde Anpflanzungen auf irgendwelchen abgelegenen Höfen. Und genau dorthin krabbeln jetzt jeden Sommer unsere vaterländischen Drogensüchtigen. Ich habe sehr lange nachgegrübelt, wie sich der Konsum von Drogen von deren Aufbewahrung trennen läßt, wie es in unserem Strafgesetzbuch geschieht. Vergeblich: Es ist doch in unserem Land üblich, defizitäre Waren in großen Mengen zu horten.“ Und zur Verbreitung von Drogen: „Die gegenwärtige gesetzliche Lage verhindert nicht, daß in diesem Land die Drogen auf einen schier unerschöpflichen Absatzmarkt treffen. Ich will gar nicht erst davon reden, daß viele Menschen hier ihrer Lebensumstände halber das Vergessen suchen, die meisten im Alkohol. Im Grunde genommen verstehe ich das Bestreben des Staates, den Drogenimport zu garantieren“, meint die Vorsitzende der „Libertinären“. „Vielleicht wäre die Lösung dieser Frage wirklich ein staatliches Drogenherstellungsmonopol, so wie es das Wodka-Monopol gibt. Leider fehlen uns die Traditionen des Drogenkonsums unserer östlichen Nachbarländer. Und es wäre vielleicht anstelle des Verbots überhaupt das Vernünftigste, Schulen für den heilsamen und kreativen Gebrauch von Drogen zu eröffnen.“ Barbara Kerneck