Dieses verdammte Wanderfestival

■ "Theater der Welt" in München: Till Briegleb sprach mit Festivalmanagerin Renate Klett über Programm und Probleme

taz: Von den Produktionen, die Sie für das „Theater der Welt“ im Juni eingeladen haben, kommen 17 aus Europa und nur 7 aus anderen Ländern. Ist das Theater außerhalb Europas so schlecht?

Renate Klett: Das kann man so nicht sagen. Man sieht oft Aufführungen, die in ihrem Land, in ihrem Kontext, ungeheuer eindrucksvoll sind, aber auf einem großen internationalen Festival zusammenbrechen. Außerdem konnte ich einige Gruppen nicht einladen, weil in München die Räume sehr begrenzt sind. Ich habe zum Beispiel nur eine einzige Halle.

Brook hatte auch Probleme mit den Räumen.

Ja. Wir wollten „L'homme qui“ ursprünglich im alten Prinzregententheater zeigen. Das war auch mit Brooks Assistenten besprochen, er ist zweimal dagewesen und hat alles ausgemessen, fotografiert, hat Pläne gemacht, und dann kam er und meinte: „I don't think, this is the right space!“ Nun, was macht man da? Wir hatten einen Vertrag, aber ich werde nicht hergehen und Herrn Brook verklagen, daß er dort spielen muß. Ich bin ja heilfroh, daß er überhaupt einen passenden Ort gefunden hat, den Marstall. Aber so mußten wir für die dort geplanten Produktionen andere Spielstätten finden.

Nach welchen Prinzipien haben Sie ausgewählt?

Ich mache mir keinen abstrakten Plan und vor allem keinen Titel. Ich finde das nicht sehr sinnvoll. In Essen, beim letzten „Theater der Welt“, war das Thema „Neue Wege in die Zukunft“. Na ja, was heißt das schon? Ich habe nach verschiedenen Informationen in einigen Ländern sehr intensiv geforscht. Das war einmal Kanada, da bin ich dann aber doch nicht fündig geworden. Dann Südafrika und Irland. In Australien hat es leider nicht geklappt. Ich fange also an zu reisen, und nach einem dreiviertel Jahr habe ich ungefähr 30 Gruppen, die in Frage kämen, und dann versuche ich, daraus ästhetisch vergleichbare Aufführungen auszuwählen. Es gibt zum Beispiel eine sehr russische Aufführung der „Drei Schwestern“ aus Moskau und es gibt „Brace Up“ von der Wooster-Group, das ist eine sehr amerikanische Aufführung. Solche Sachen finde ich spannender als ein Volkshochschulthema, etwa „Das Individuum und die Masse“.

Sie arbeiten also stark nach dem Prinzip der momentanen Inspiration?

Es ist, wenn Sie so wollen, assoziativ, aber ich denke, daß man es anders nicht machen kann. Mit einem Raster die Welt zu durchreisen fände ich todlangweilig.

Bemerkt man denn beim Reisen, daß es ein bestimmtes Thema gibt, das die Theaterwelt im Moment beschäftigt?

Ganz genau das ist passiert, und das ist so spannend und lebendig. Wobei es mir so vorkam, als sei es im Moment mehr etwas Ästhetisches als etwas Inhaltliches.

Orientiert sich diese Ästhetik mehr an der Ausschöpfung der konventionellen Formen, oder ist es eine Suche nach neuen Formen?

Die Auswahl in München ist natürlich stark bestimmt durch das Raumangebot. Ich kann nichts einladen, das ich nicht adäquat präsentieren kann. Und ich wollte eine Aufführung, die dringend eine Halle braucht, nicht in einen Guckkasten zwängen. Deswegen ist das Münchner Programm sicherlich „konventioneller“ als zum Beispiel in Hamburg. Was meinen Sie, was ich deswegen geflucht und getobt und gebrüllt und geschrien habe, aber es nützt ja nichts. Insgesamt ist es aber nicht konventioneller geworden. Wenn man pauschal urteilen will, kann man eher sagen, es ist schwächer geworden. Ich habe sehr viel gesehen und relativ wenig eingeladen. Unendlich vieles war austauschbar.

Senkt der weltweite Festivalbetrieb, die Orientierung am globalen Theater, den Level an Originalität und Qualität nicht eher, statt ihn zu heben?

Ich bin immer vorsichtig mit solchen Grundsatzurteilen, aber es könnte schon so sein. Sicher herrscht eine größere Aufmerksamkeit für das, was drumherum passiert, als noch vor zwanzig Jahren. Es hat sicher auch etwas Gutes, daß man mal über den Tellerrand guckt, aber es birgt auch die Gefahr, daß es einsuppt. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Lepage, der ja in letzter Zeit viel in Großbritannien gearbeitet hat, ist immer noch Lepage.

Wird das Theater in einer Zeit, in der es so viele Kriege gibt, wieder politischer?

Nein. In den ehemaligen sozialistischen Staaten in Osteuropa passiert zum Beispiel zur Zeit eher das Gegenteil. Dort war man ja immer sehr politisch, einfach durch die Wirkung, die das Theater dort hatte. Jetzt ist man in Apathie gefallen oder zumindest in die totale politische Wirkungslosigkeit. Oder das südafrikanische Theater: soweit ich es kannte, war es ja immer sehr gut und hatte politischen Drive. Da hat es mich interessiert, was da in so einem Land im Umbruch wohl sein wird. Aber vor Ort haben mir alle gesagt, wir sind so froh, daß wir jetzt Botho Strauß spielen können und kein schlechtes Gewissen haben müssen. Mit Mühe habe ich dann doch noch zwei Aufführungen mit politischem Anspruch bekommen.

Über diese Entpolitisierung denke ich oft nach. Vielleicht steht das Theater ja doch zu sehr am Rand. In den 70er Jahren war es ungeheuer politisch, und aus der politischen Radikalität wurde dann eine ästhetische. Jetzt ist es weder politisch noch ästhetisch radikal, sondern – zumindest in unseren Breitengraden – von einer geradezu ätzenden Bravheit. Das liegt sicherlich mit daran, daß die Gesellschaft auch so langweilig geworden ist.

Das Programm hat kaum Premieren. Ist es für ein Festival mit einem Etat von 4,5 Millionen Mark nicht möglich, Auftragsproduktionen zu vergeben?

Das „Theater der Welt“, dieses verdammte Wanderfestival, hat diese Möglichkeit ganz sicher nicht. Die Planungsphase ist immer zu kurz. Ich habe in München im Januar 92 angefangen, wenn ich da den Brook gebeten hätte, etwas für das Festival zu machen, dann hätte ich mit ihm über 98/99 reden können. Ich finde ja auch, daß das Festival mehr produzieren sollte, aber das kann man nur mit einem stehenden Festival machen.

Können sie etwas über die Struktur des Programms sagen?

Es gibt diese drei berühmten Säulen: Strehler, Bondy, Brook. Ich finde diese Mischung wegen der Breite des Spektrums sehr gut. Das opulente, superkulinarische Strehler-Theater und dagegen diese Produktion von Brook, die ganz einfach, ganz schlicht und ganz wunderbar ist. Und dazu der Bondy mit seinem blühenden, bürgerlichen Theater, aber wirklich vom Allerfeinsten, so etwas muß man wirklich lange suchen. Als Fundament ist das sehr gut. Darüber gibt es dann diese Ebene mit Lepage, Dorn, Wooster Group – sozusagen Halbberühmte.

Wobei Lepage ja langsam in die Ebene aufgestiegen ist, wo das „halb“ nicht mehr gilt.

Ja, das ist wahr. Im Moment ist er der begehrteste Regisseur des Welttheaters. Aber es werden auch viele völlig unbekannte Produktionen, zu sehen sein. Für eine echte Entdeckung halte ich zum Beispiel das rumänische National- Theater Craiova, das in der hintersten Ecke von Europa Theater mit Weltniveau macht. Dann gibt es sehr ungewöhnliche Sachen, wie das Dostojewski-Projekt von Thierry Salmon oder das ThéÛtre du Radeau aus Le Mans. Alles Aufführungen, von denen ich weiß, daß sie umstritten sein werden. Aber ich kann sie verteidigen.

Das wird man in München wohl auch müssen.

In München gibt es ja nicht so etwas wie das TAT in Frankfurt oder Kampnagel in Hamburg, und seit es das Münchner Theaterfestival nicht mehr gibt, ist so ziemlich alles an München vorbeigerauscht. Jemand wie Strehler war seit zwanzig Jahren nicht mehr hier. Das hat natürlich auch was mit dieser bayerischen Art zu tun. Sie halten sich ja sowieso für den Nabel der Welt. Was soll man da noch bringen?

Dieter Dorn und Günther Beelitz tauchen im Programm als künstlerische Leiter auf...

Oh, meine Lieblingsfrage: Was leiten Sie? Ja, das frage ich mich auch. Dieses Festival wird immer an ein Theater vergeben. Das sucht sich jemanden, der es ausrichtet. In München ist das alles natürlich viel komplizierter. Beworben hat sich darum ursprünglich Günther Beelitz. Aber in München wird alles durch diesen permanenten Stadt- und-Staat-Konflikt erschwert. Man sagte also: „Das geht aber nicht, daß der Beelitz das Festival kriegt, das ist nicht das Staatstheater, sondern das Stadttheater, die Kammerspiele von Herrn Dorn, die müssen das haben.“ Dann hat man sich auf einen Kompromiß geeinigt, der natürlich nicht unbedingt die beste Lösung ist: sie kriegen es beide. Damit ist das Münchner Prinzip der Lähmung wieder erfüllt.

Und was tragen die beiden nun zu dem Festival bei?

Sie geben uns die Theater, steuern eine Produktion bei, und das ist ja auch schön, aber das war's. Ich habe mir allerdings die Programmautonomie ausbedungen.

Sie haben vier der sechs Festivals seit 1981 organisiert. Warum verpflichtet das ITI (Internationales Theater Institut, der Veranstalter des „Theaters der Welt“) nicht eine feste Programmdirektorin und unterhält ein eigenes Festivalbüro, anstatt zu jedem Festival wieder völlig neu zu beginnen? Das wäre doch sicher billiger.

Natürlich! Jeder Mensch sieht es so, außer den Herren vom ITI. Man könnte sich ja auch mal überlegen, ob man das Festival an einen festen Platz bindet. Aber das ist ITI-Logik. Am 27. Juni, wenn dieses Festival zu Ende geht, ist bis 1996 in Dresden der Faden wieder gerissen. Da gibt es nichts, keine Adresse, kein Fax, keine Telefonnummer, keine Mitarbeiter. Das ist alles so töricht.

Wie ist denn der Umgang mit dem bayerischen Amtsschimmel?

In München werden existierende Gesetze ja strengstens gehandhabt. Es gibt da zum Beispiel in der Orlando-Inszenierung aus Brasilien eine wunderbare Szene, in der ein Hochzeitskleid verbrannt wird. Seit einem halben Jahr versuchen wir, dafür eine Genehmigung zu kriegen. Ich habe zu dem Branddirektor gesagt, sie müssen bitte verstehen, daß man vor drei Jahren, als die Aufführung entstand, vergessen hat, die bayerische Brandschutzverordnung durchzulesen. Ich wollte damit einen Scherz machen, aber der hat das völlig ernst genommen. Ich schwör's Ihnen, der hat gesagt: „Ja, das war aber ein Versäumnis.“ Dann habe ich ihm gesagt: Die wußten ja damals noch nicht, daß sie hier spielen wollen. Und da meinte er: „Ja, aber das hätten sie berücksichtigen müssen.“ Ich habe von diesem Branddirektor einen Brief, der ist wirklich kabarettreif. Da stehen Sätze drin wie: „Grundsätzlich wird darauf hingewiesen, daß der Gebrauch von Feuer verboten ist. Ausnahmen werden gemacht, wenn sie aus künstlerischen Gründen nötig sind. Meistens handelt es sich dabei aber nur um Regieeinfälle.“

Und dann kommt sein Hauptargument, auf das er ganz besonders stolz ist: Wenn der Held stirbt, tut er das ja auch nicht wirklich. Warum also muß das Feuer echt sein? Und dann erzählt er einem ganz triumphierend: „Haben Sie den Lear gesehen, von dem Herrn Dorn, die Szene, wo der Herr Holtzmann die Augen ausgestochen bekommt? Stechen Sie dem Herrn Holtzmann denn wirklich die Augen aus? Nein! Sie stechen ihm nicht die Augen aus. Aber das Feuer, das soll echt sein.“ Wenn ich nicht so im Streß wäre, dann könnte ich da wirklich viel Spaß dran haben.