Nationalistische Selbstzensur

Ein Volk dividiert seine ethnischen, geographischen, sprachlichen und kulturellen Ursprünge auseinander. Autistischer Atavismus und populistische Provinzialität zerstören den südslawischen Kulturraum  ■ Von Hamdija Demirović

Wir Südslawen, ob Serben oder Kroaten, haben uns kulturell selbst boykottiert, lange bevor es andere als Teil ihrer Sanktionen tun konnten. Zuerst hatten wir eine kommunistische Zensur – jetzt haben wir eine nationalistische.

Aufgrund der aktuellen expansionistischen Nationalismen, die in der Vergangenheit immer zur einen oder anderen Abart von Faschismus führten, haben wir nicht nur unseren gemeinsamen Staat zerstört, sondern auch unseren gemeinsamen jugoslawischen, das heißt südslawischen Kulturraum. Sowohl im kommunistischen Jugoslawien als auch im Königreich Jugoslawien existierte er noch. Er bestand lange vor der Staatsgründung Jugoslawiens, und den Intellektuellen Südslawiens war die jugoslawische Kultur, verwoben und durchtränkt mit vielen Kulturen, immer zutiefst bewußt.

Der Slowene Jenej Kopitar war der linguistische Mentor des Serben Vuk Karadžić und trug in großartiger Weise zur grammatikalischen und linguistischen Reform unserer Dialekte bei, so daß eine gemeinsame, literaturwürdige Sprache aller Serben, Kroaten, Bosnier und Montenegriner dabei herauskam. Der kroatische Schrifsteller A.G. Matos, beschrieb unsere Sprachensituation Anfang des Jahrhunderts mit den Worten: „Wir, Kroaten und Serben, haben schon vor langer Zeit eine Einheit in unserer literarischen Sprache kreiert, nicht jedoch in unserer Literatur und Leserschaft. Serben lesen nur serbische, wir lesen nur kroatische Bücher. Selbst die Bücher haben hier immer politischen Zwecken gedient, statt der Politik unsere gegenseitige kulturelle Abhängigkeit vor Augen zu halten.“

Unter Tito wurde diese „gegenseitige Abhängigkeit“ gefördert, und die Urbaneren unter den Serben und Kroaten schafften es, ein größeres Verständnis füreinander herzustellen. Die Politik in Jugoslawien war aber immer offen oder versteckt von eher bäuerlichen Elementen dominiert, deren Interessenlagen meist in Streit über Grenzen und Verbindlichkeiten mündeten und die Kommunismus und Faschismus überdauerten. Diese patriarchalische Mentalität überlebt nur durch ihren Dogmatismus. Sie hält politische Vertreter an der Macht, die nie etwas für die soziale und kulturelle Entwicklung der breiten Bevölkerung tun – oder getan hätten.

Eine liberale Demokratie, die solche Verpflichtungen als selbstverständlich betrachtet, stellt für die, die nun Ex-Jugoslawien beherrschen wollen, die größte Bedrohung dar. Liberalität begreifen sie nur als Hindernis und bekämpfen sie, wo sie nur können. Faschisten und Kommunisten stemmen sich heute gemeinsam gegen alle vorsichtigen demokratischen Ansätze. Ihrer südslawisch bornierten Stammespolitik klingt ein Wort wie Freiheit, das dem Liberalismus seinen Namen gibt, schlicht unerträglich.

Die ersten Sanktionen gegen unsere eigene Kultur bestanden in der grotesk übertriebenen, nationalen Rolle, die wir Literatur und Kultur zugewiesen haben. Sinn und Zweck eines solchen Kulturbegriffes ist die Unterdrückung unabhängiger, nicht nationaler oder antinationaler Stimmen. Modernisten wurden dabei schnell zu „Verrätern“, und innerhalb des kulturellen Musters, das sich aus „der Nation“ zu definieren hatte, fanden kritisch und analytisch Denkende keine Akzeptanz. Denn durch ihr Hinterfragen verdarben sie ja das nationale Selbstbild und widerlegten seine auf Vorurteile gestützte Ansehnlichkeit. Aber gerade in einem so turbulenten Klima, das durch den radikalen südslawischen Nationalismus und Provinzialismus geschaffen wird, ist ein Kulturraum, der mehr als eine Nation umfaßt, von essentieller Bedeutung.

Der Beginn der Moderne in der südslawischen Kunst und Literatur ging einher mit der Idee einer globalen Kultur. Kunst und Literatur erreichten ihren Höhepunkt zwischen den beiden Weltkriegen; jedoch nicht etwa, weil das politische Klima günstig war – das war es bei uns nie! –, sondern weil unsere Künstler und Intellektuellen ein fruchtbares kulturelles Klima geschaffen hatten. Unter Tito gab es zumindest bescheidene Versuche einer Modernisierung der Gesellschaft, das sollte man nicht vergessen. Wie brüchig und unvollkommen diese Ansätze auch immer waren, sie erlaubten Experimente im künstlerischen und literarischen Leben, wenn auch nicht in der Gesellschaft als ganzer. Heute, da nationale Kulturen wieder im Sumpf ihrer eigenen Archaik und ihres Atavismus versinken, in Provinzialität, Populismus und einer Antihaltung gegen alles Urbane, wird die jugoslawische Kultur – zumindest nachträglich – ebenso geschätzt wie der jugoslawische Staat. Jetzt beherrscht Politik unser Leben, und da sie mit Gewalt identisch zu sein scheint, bestimmt Gewalt die Grenzen der Kulturen.

Fast alle Brücken zwischen uns sind abgebrochen. Die gemeinsame Sprache wird wieder geteilt. In den Schulen gelten neue, national gefärbte Curricula für Geschichte und Literatur. Schriftsteller der jeweils anderen nationalen Literatur werden zugunsten „adäquater“ Literaten aus den Lesebüchern entfernt. Die Substanz unseres gemeinsamen Kulturraumes wird vernichtet. Natürlich ist „ethnische Säuberung“ von Kultur per se ein antikultureller Akt, aber die neuen Nationalkulturen, die sich aller unwillkommenen Mischungen entledigt haben, kümmert das nicht. Sie wollen ohne Vergleich mit anderen Kulturen bleiben, um in Frieden zu ruhen, also sterben zu können.

Die entwickelte Welt könnte den nationalen Kulturen helfen, sich von ihren autistischen Zügen zu befreien, indem sie auf den größeren europäischen Kontext nachdrücklicher hinweist. Wer meint, man könne den Balkan einfach abschreiben, irrt sich. Der Balkan ist ebenso konstituierender Bestandteil der europäischen Geschichte und ihrer 25 Jahrhunderte alten Zivilisation, wie Europa selbst konstituierender Teil einer größeren, weltweiten Zivilisation ist. Der deutsche Intellektuelle Gustav René Hocke schrieb in seinem Buch über den Manierismus in der Literatur sinngemäß: „Wir werden nur dann selbstbewußte Europäer sein, wenn wir endlich aufhören, uns von den kulturellen Landschaften Asiens und Afrikas abzugrenzen.“

Wenn dies auf andere Kontinente zutrifft, wie kann man dann einem Volk mit ähnlichen ethnischen, geographischen, sprachlichen und kulturellen Ursprüngen erlauben, eine selbstmörderische Politik der kulturellen Abgrenzung zu verfolgen? Was in Südslawien derzeit zerstört wird, ist nicht nur die eigene Kultur, sondern ein wichtiger Teil Europas und der ganzen Welt.

Hamdija Demirović ist Dichter, Übersetzer und Redakteur. Er wurde in Sarajevo geboren, lebte acht Jahre in Belgrad und wohnt heute in Amsterdam. Der vorliegende Text ist die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags, den er im Dezember 1992 im De-Balie-Theater in Amsterdam hielt.