: Vergiß Somalia!
Was ist ein Flüchtling, was ist Europa? Über Integration und Desintegration von Imperien. ■ Von Nuruddin Farah
Es scheint mir angemessen, gleich zu Beginn zu erwähnen, daß ich seit fast zwanzig Jahren an diesem zweifelhaften Ort lebe, den ich das Land meiner Phantasie nenne. Dennoch empfinde ich die vor mir liegende Aufgabe überwältigend schwer, nämlich zu erklären, warum ich mir dieses Land erschaffen mußte: aus dem komplexen Bedürfnis, der Notwendigkeit heraus, über viele Jahre hinweg nicht den Verstand zu verlieren. Vielleicht auch, weil ich in diesen unruhigen Jahren so oft mit meiner Angst konfrontiert war.
Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß es an ein Wunder grenzte, wenn ich anderen verständlich machen könnte, wie ich denke; wenn ich meinem Denken eine Sprache verleihen könnte, die auch Menschen begreifbar wäre, die an einem Ort der Welt leben, an dem sie auch geboren wurden und aufgewachsen sind; Männer und Frauen, die in einem Land wohnen, dessen physische Existenz ebenso unmißverständlich ist, wie es Grenzen auf einer Weltkarte sind.
Erstaunlich ist es nicht, daß ich Länder immer nur für Arbeitshypothesen gehalten habe, Toren gleich, die sich zu einer Annahme hin öffnen, zur Akzeptanz einer Loyalität, zur Idee einer Nation – wenn Sie wollen: zu einem Volk, das seine ewigen Schwüre einem Ort schwört, den es Heimat nennen will, einem Ort, dessen Klima, Geographie und Pflanzenwelt sein Zuhause ist. Denn daneben gibt es manch andere, gleichwertige Idee, der man sich lieber ergibt, wiederum eine Hypothese, die mit den eigenen Wünschen zu tun hat. Die nun zur Grundlage dafür wird, daß ganze Scharen von Menschen zu wandern beginnen, von einer nebulösen Vorstellung von Nation zur anderen, wobei das neue Postulat die größere Wahrscheinlichkeit eines besseren Lebens, einer unversehrten Familie, ihrer unmittelbaren Sicherheit enthält. Auf der langen Reise von einer Hypothese in die andere bewegt man sich am weitesten fort von seinem Ursprung, und es ist vorstellbar, daß im Augenblick der Rechenschaft Verzweiflung eingesetzt hat bei demjenigen, der sich nun in neuen Umständen findet: etwas stirbt. Denn zwischen den Momenten des Fliehens und der Ankunft wird der Flüchtling geboren; er lebt in einem Land, das zu amorph ist, um einen Namen zu tragen. Wir wollen es einfach das Land großer Hoffnungen nennen, das Land, dessen Sprache schwanger ist mit Wünschen für die Zukunft.
Was wird aus einem Menschen, einem Volk, wenn seine Hypothese, sein Land, aufhört zu funktionieren?
Wenn man zu ahnen beginnt, daß das eigene Land nicht mehr existiert, weder als Idee noch als physische Realität, ist das ein tragischer Moment voll unaussprechlicher Qual. Ich kann mich daran erinnern, wie ich diese furchtbare Wahrheit begriff, als das Land meiner Geburt, Somalia, in meinem Kopf starb wie eine Forderung, die man aufgibt. Ich erinnere mich, daß ich mich vertrieben fühlte und alles, was mir geschah, in dieser Sekundenewigkeit noch ungläubig einem Gefühl vorübergehender Verlorenheit anlastete, der fragmentierten Realität eines zerbrochenen Spiegels. Später habe ich mich gefragt, ob ich deshalb ein anderer geworden bin.
Ich erinnere mich, wie ich in einer Wohnung in Rom stand und den Telefonhörer in der Hand hielt, in dem es stumm geworden war. Ich hatte meinen älteren Bruder in Mogadischu angerufen und darum gebeten, daß mich jemand vom Flughafen abholt. Mein Bruder riet mir, nicht nach Hause zurückzukehren. Seine Worte sind mir bis heute im Ohr: „Vergiß Somalia! Besser, du gehst davon aus, daß das Land tot ist, daß es für dich nicht mehr existiert!“ Wenige Minuten später, den verstummten Hörer noch in einer abgestorbenen Hand, fühlte ich etwas Lebendiges in mir aufsteigen: Ein anderes Land wurde geboren, ein neues Land, das aus der Wurzel eines anderen Konstrukts stammte, dem Konstrukt eines Schriftstellers, dem die Möglichkeit, in das Land seiner ursprünglichen Inspiration zurückzukehren, genommen worden war. Dieses neue Land, das aus der Notwendigkeit zu überleben kam, schlich sich ans Fenster meiner Welt, lautlos wie ein Nachtfalter; sein Anblick bewahrte mich vor dem Wahnsinn. Bald war aus dem Nachtfalter ein Schmetterling geworden, der die konzentrierte, süße Frucht meines Exils umschwebte und den Motor meiner Imagination damit in Gang setzte.
Was aber wird aus einem Mann, einer Frau, deren Nächte ohne den Falter bleiben, an deren Fenster kein Schmetterling auftaucht? Was wird aus denen, die aus ihrer Verlorenheit kein anderes Land schaffen können? Mit anderen Worten: Was geschieht mit einem Volk, das weder zur Hypothese seines Zuhauses zurückkehren kann, noch je dort ankommt, wo es jetzt lebt? Ist das der Lehm, aus dem ein Flüchtling geformt ist?
Angesichts der Plötzlichkeit, mit der ich, als mein Bruder mir riet, Somalia zu vergessen, vor dem Zwang zur Entscheidung stand, fragte ich mich, ob ich in der Lage wäre, mit den Turbulenzen meiner neuen Situation fertigzuwerden als ein Schriftsteller aus Afrika, keine dreißig jahre alt, der in Europa gestrandet ist und den außerhalb seines Landes kaum einer kennt.
Ich weiß nicht warum, aber ich durchkämmte die Erfahrung meiner spärlichen Jahre nach Beispielen, die mir vielleicht helfen könnten. Und ich erinnerte mich tatsächlich, nämlich daran, wie meine Familie vor dreizehn Jahren einen Zermürbungskrieg zwischen Somalia und Äthiopien überlebte; erinnerte mich, wie wir alle über eine Grenze geflohen waren, deren Existenz wir Somalis nicht anerkannten; erinnerte mich, wie wir unsere Identität in Mogadischu, unserem neuen Zufluchtsort, aus einem neu auflebenden Idealismus und seinem ideologischen Korrelat, dem Nationalgefühl, wiederherstellten; erinnerte mich, daß in Fragen der Identität die einzelnen Teile immer mehr bedeuten als das Ganze.
Ich weiß noch genau, daß wir Neuankömmlinge aus dem Kriegsgebiet damals nicht als Flüchtlinge behandelt wurden, sondern so, als wären wir heimgekehrt, denn damals waren alle Somalis erfüllt von der Sache dieser, ihrer neugeborenen Nation. Unsere Entwurzelung war dadurch leichter zu ertragen. Damals besaßen alle Somalis per Geburt ein Recht auf Staatsbürgerschaft ihrer neu entstandenen Republik, die die Grenzen zwischen sich, Kenia und Äthiopien nicht anerkannte.
Nationalität und Imperium
Als ich mich wieder daran erinnerte, schärfte sich mir der Blick für einen bestimmten Moment meiner jugendlichen Phantasie. Als Junge nämlich emigrierte ich oft in das Reich der Tiere, verwandelte mich mal in einen Vogel, mal in ein Krodidil, trieb die Metamorphose weiter, wurde von einem Löwen zu einer Schlage und so weiter. Ich dachte, wenn ich als Kind Bürger im Reich der Tiere und der Menschen war, ob ich dann jetzt aus dem Land meiner Geburt wohl in das neue Gebiet gehen durfte, das sich in meinem Kopf soeben neu konstituiert hatte? Und was wäre mit meinem Beruf, dem Schreiben? Und was mit Rom, meinem zukünftigen Zuhause, wo ich zuerst die Worte hörte: „Vergiß Somalia“? Dank der freundlichen Fürsprache von Freunden war es mir möglich, meine Pflichten in allen drei Staatsbürgerschaften zu erfüllen. Und der Nachtfalter flog hierhin und dorthin, ließ seinen leichten Schatten auf die leuchtenden Winkel meiner kreativen Energie fallen und verdunkelte die schillernden Regionen, in denen der Selbstzweifel herrschte.
In dieser Zeit der Selbstbefragung traf ich einen alten Freund aus Dänemark wieder und erzählte ihm, daß ich vorhätte, mein Land durch Schreiben am Leben zu erhalten. Mein dänischer Freund bestärkte mich, war aber der Meinung, daß Männer und Frauen, die schreiben, ob und welche Ausweise sie auch immer haben, nie Flüchtlinge sind. Wir diskutierten lange darüber, mein dänischer Freund und ich, und beschlossen am Ende, Flüchtlinge als Menschen zu begreifen, die die Fähigkeit des Selbstausdrucks ihrer ganzen Person verlieren müßten, würden sie nicht Grenzen überschreiten, um den Kern ihres Wesens, ihr Menschsein, wieder ausdrücken zu können.
Vielleicht waren ja Ort und Jahr meiner Geburt Wendepunkt für das, was generell als somalische Identität oder Nationalität definiert wird. Ich bin in Baidoa geboren, im Süden Somalias, der am Ende des Großen Krieges nach Mussolinis Niederlage an den Sieger, also an die Briten fiel. In einer Farce von provinzieller Lächerlichkeit wurde innerhalb weniger Monate die italienische Trikolore durch den Union Jack der siegreichen Kolonialmacht ersetzt. Sobald die europäischen Mächte nicht mehr präsent waren, kam eine andere, allzu greifbar nahe Macht mit Kanonen, um Steuern abzupressen und die koloniale Show zu übernehmen: Äthiopien, das seine halbverhungerten Soldaten in mottenzerfressenen Uniformen ins Feld schickte, immer auf dem Sprung zum Plündern. So wurde aus dem Somalischsein eine Bindestrichidentität: Britisch-Somaliland, Italienisch-Somaliland, Französisch-Somaliland, Äthiopisch-Somaliland und in den frühen Sechzigern Kenianisch-Somaliland.
Zwei Jahre nach meiner Geburt war mein Vater nach Ogaden gegangen, wo er als Dolmetscher für die britische Administration die Angelegenheiten der somalisch- sprachigen Region regelte. Als die Briten abzogen, blieb die Familie dort. Ich habe meine Nationalität oft mit der eines Triester Bürgers verglichen, der zunächst Untertan des ottomanischen und dann des österreich-ungarischen Reiches war und schließlich entweder Italiener oder Jugoslawe, je nach dem, von welcher Macht die Stadt gerade eingenommen war. Oder ich habe mich mit einem Kurden verglichen, der sich allerdings sogar mit dem Fehlen einer Bindestrichidentität und damit seines Kurdischseins abfinden muß. Und wie steht es mit den palästinensischen Arabern, deren Flüchtlingsstatus ich schon in jungen Jahren kennenlernte, als nämlich einige von ihnen Zuflucht fanden in dem Städtchen am Fluß, in dem auch ich aufwuchs? Die Menschen von Kallafo sammelten Geld, um ihnen zu helfen. Ich war zwar zu jung, um die Komplexität der palästinensischen Vertreibungsgeschichte zu verstehen, aber ich erkannte doch die Tragödie ihrer Not, mit der ich sympathisierte, den Verlust ihres Selbstbewußtseins, ihrer Identität, und konnte mich als Somali vollkommen damit identifizieren. Vielleicht hatte ich damals das erste Mal den Gedanken, daß ein Land in einem Menschen sterben kann, lange bevor er als Flüchtling bezeichnet wird.
Kürzlich fragte ich mich, was aus den drei palästinensischen Familien wohl geworden ist, deren Söhne ich kannte und in deren eine Tochter sich ein Jemeni aus unse
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
rer Stadt verliebte. Mit Ehrfurcht und Schrecken betrachte ich heute das Schicksal aller Flüchtlinge, die in ein beständiges Hin und Her von Identitäten, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geworfen sind.
Identität und Flucht
Für jemanden mit meinem Hintergrund kann die Diskontinuität, in der Identität und Nationalität konstruiert wird, nur eines bedeuten: daß der Kolonisierte selbst gewissermaßen sterben muß, wenn er das Naturrecht auf Selbstdefinition verloren hat, wenn er gezwungen ist, auf multiple, ihm aufoktroyierte Identitäten zu reagieren, Identitäten zumal, durch die er sich selbst als Erfindung anderer sehen lernt.
So tiefgreifend ist die Zerstörung der Identität, so tief die Verzweiflung, daß der Kolonisierte zum Flüchtling wird. Und das Furchtbare ist, daß die klassische koloniale Situation den tragischen Kampf untereinander beinhaltet, mörderische Brutalitäten und mißlingende Verständigungsversuche von Menschen, die sich auf der Grundlage ganz verschiedener Bedingungen in der kolonialen Vergangenheit als Nation definieren sollen. So kommt es zu der typischen neokolonialen Reaktion auf die Komplexität der Nationalitätenfrage, die bedeuten kann, daß ein Land wie Kenia somalische Flüchtlinge innerhalb und außerhalb seiner eigenen Grenzen produzieren kann. Es liegt eine perverse Genialität in solchen künstlich geschaffenen Identitäten, denn wie alles, das irgendwie existiert und zu funktionieren scheint, wird ihre Genese solange nicht beachtet, solange alles gutgeht. Sobald jedoch etwas plötzlich nicht mehr „gutgeht“, sieht jeder, daß der Teufel im Detail dieser erfundenen Identität gesteckt hat – und daraufhin geht die Hölle los. Ob man Bewohner des indischen Subkontinents ist oder des Nahen Ostens, Bürger der somalischen Halbinsel oder Serbe in Bosnien – man wird zu Anfang gleichermaßen von den euphorischen Höhen des Nationalismus überwältigt, denen schnell das depressive Tief des Selbstmords folgt.
Ich brauche nach allem Gesagten nicht mehr besonders zu betonen, daß überall, wo und wann neue Imperien alte ersetzen, große Menschenmassen in bitterste Verhältnisse geworfen werden und ein großer Teil von ihnen sich in Flüchtlinge verwandelt. Kurden, Somalis, Kambodschaner, Vietnamesen, Tamilen aus Sri-Lanka, Bosnier und palästinensische Araber: sie alle haben gemeinsam, daß ihre Völker in Imperien hineingezwungen wurden, egal auf welcher ideologischen Grundlage – Imperien, die im Prozeß ihres Aufbaus und ihrer Desintegration neue Loyalitäten geschaffen und damit neue Identitäten entworfen haben.
Wer ohne Rücksicht auf die Völker willkürlich die Grenzen seines Imperiums absteckt, kreiert untergründige Spannungen; ihr politisches und ökonomisches Erbe ist die permanente Gefahr von Implosion und Explosion der Verhältnisse. Leider muß ich wohl niemanden hier daran erinnern, wie die implosive Natur der Krise am Horn von Afrika die Spannungen zwischen verschiedenen Nationalitäten der Region erzeugt hat, wie sich diese Spannungen immer wieder entluden und schließlich einen Krieg auslösten, der ein furchtbares Blutbad anrichtete und viele Menschen zu Flüchtlingen machte, sowohl innerhalb der künstlich gesteckten Grenzen ihrer beiden Länder als auch über sie hinweg.
Zudem liegt in der Geschichte dieser spannungsreichen Staatenkonstruktion die Ironie, daß es keine Antwort auf die Frage der Verantwortung mehr gibt. Indem man Schuld zumißt, bedient man sich nur der Rhetorik, die am besten geeignet ist, die historische Perfidie einer diktatorischen Haltung anzuprangern, die andere Völker mir nichts, dir nichts unterworfen und in bewegliche Habe verwandelt hat. Kaum jemand kann sich mehr Afrika ohne seine neokolonialen Probleme vorstellen und sich noch fragen, welches Verhältnis Somalia und Äthiopien einerseits und Somalia und Kenia andererseits zueinander hätten, wären ihre Grenzen nicht durch europäische Mächte bestimmt worden, die das somalischsprachige Gebiet in so und so viele Portionen unter sich aufteilten. In die Rolle des Kriegstreibers und Expansionisten gezwungen und ohne jegliche Chance, Identität und Humanität zu beweisen, stellen sich Somalier gegen Somalier in dieser Verbrennungsmaschinerie, deren Implosion ein so tyrannisches Regime wie das des Siad Barre produziert hat. Die Macht zu teilen, um zu herrschen, Beziehungen zu definieren, Gebiete zu benennen und Völker durch Grenzziehungen unnatürlich zu zerschneiden hat zu Symbolkonstruktionen geführt. Man kann nicht mehr leugnen, daß Afrikaner als freie Agenten ihres Schicksals unheilige Allianzen mit den imperialen Herren eingegangen sind, daß sie einen Pakt geschlossen haben mit eigenen und fremden Teufeln.
Dabei hat es natürlich Anzeichen gegeben für die drohende Katastrophe, für die Konflikte, die zwanzig Jahre nach der sogenannten Entlassung in die Unabhängigkeit aufbrechen würden. Die Idee des Imperiums selbst zerteilt ja schon und schafft die Splitter der Selbstzerstörung. Und wie Afrikaner verschiedener Sprachen nach imperialem Muster zusammengeschweißt wurden, wurde das somalische Volk durch imperialen Eifer auseinandergehalten. Es ist eine furchtbare Ironie, daß die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) die Willkür der bestehenden Grenzen nicht nur nie angegriffen sondern sie sogar ausdrücklich gutgeheißen hat. Schlimmer noch ist, daß sich jetzt bei den Somalis des Nordens die überlegene Kunst der Architekten der Imperien zeigt. Ein verarmtes kolonisiertes Denken läßt die neue Grenze zwischen Somalia und Somalia wieder zwischen dem ehemalig italienischen und britischen Gebiet verlaufen. Das britische Empire herrschte in Ostafrika über mehrere Länder, die es managte wie einen Konzern. Der Süden Somalias, der an diese Region angrenzt, hatte mit dieser Welt nichts zu tun, und auch Mogadischu verband nichts mit dem britischen Protektorat von Somaliland oder, wenn wir schon dabei sind, mit dem äthiopisch verwalteten Ogaden oder dem von Frankreich beherrschten Staat zweier Nationen, dem heute Republik von Djibouti genannten Gebiet.
Architekten von Imperien sind Meister in der Kunst, ihre eigene Logik auf die Region anzuwenden, die sie erobert haben. Anders als andere Gebiete des Kontinents hatte der Osten Afrikas keine so ausgedehnten Imperien je erlebt – was erklärt, warum es keine lingua franca gab, bevor die Briten das Suaheli dazu machten. Im Süden des Sudan, in den das arabische Imperium nie hinabgereicht hatte, existierte von jeher ein Babel aller Klänge und Weisen. Der Begriff des Imperiums jedoch fußt, wie mir scheint, per se auf der Idee von etwas Identischem, sei es auf sprachlicher, philosophischer oder kultureller Ebene. Keineswegs zufällig ist, daß ein Volk die sprachliche Hegemonie derer erbt, die dem Empire einmal vorgestanden haben. Und diese Sprache, die im Leben derer, die zu sprechen sie gezwungen waren, einmal eine so überragende Rolle gespielt hat, verschwindet auch nicht, nur weil das Imperium zerfallen ist. Je mehr Imperien aber zerfallen, je öfter die vielen Völker dieser Imperien die Idee töten, aus der ihr Land bestand, die Hypothese, die einmal ihr Zuhause war, falsifizieren, desto mehr Flüchtlinge wird es geben.
Europas Fremde
Daß die Welt einer radikalen Transformation unterzogen ist und uns diese einschneidenden Veränderungen zwingen, uns selbst und unsere Nachbarn mit neuen Augen zu betrachten, ist seit einiger Zeit unbestreitbar geworden. Die bisher bestürzendste Reaktion hierauf war, daß wir angesichts des Zusammenbruchs um uns herum so überaus schnell zum Verzicht bereit waren: auf die humanitären Prinzipien, die unsere Gemeinwesen zusammenhielten, und die Glaubenssätze, mit denen wir großgeworden sind.
Es braucht kaum betont zu werden, daß die neuen politischen Probleme und Veränderungen, die wir mit ihnen assoziieren, sich auf die ganze Welt negativ auswirken und uns einen zutiefst pessimistischen Blick in die Zukunft werfen lassen – eine Zukunft, in der manche westeuropäische Nation und Regierung in eine paranoide und ungerechtfertigte Angst davor zurückfällt, was die Zeitungen die menschliche Flut nennen, Flüsse von Asylanten, Ströme von Flüchtlingen, Wellen von Boat-people, Simulanten und Simulantinnen, die an den Einfallstoren Europas stehen, auf der Suche nach einem Hafen, in den sie als Wirtschafts- und andere Flüchtlinge einlaufen können.
Mancher erinnert sich noch, wie vor Jahrzehnten Enoch Powell (britischer Politiker der Rechten) von den „Strömen von Blut“ sprach. Heute lauschen wir mit ähnlichem Schrecken auf die Töne des Hasses, die aus Frankreich und Deutschland kommen, sehen mit noch größerem Entsetzen die Brandbomben, die Neofaschisten Asylsuchenden in ihre ghettoartigen Unterkünfte schleudern. Und damit sind wir beim Thema der politischen und wirtschaftlichen Ängste der sogenannten „entwickelten“ Teile des Globus, diesen spektakulären Ängsten, deren Implikationen weit reichen, vergleichbar den zur Jahrhundertwende herrschenden Konflikten, jener Ära also, aus der die Grenzen und Gesetze der Welt, wie wir sie heute kennen, hervorgegangen sind. Diese Welt wurde damals zwischen den europäischen Mächten in ungleiche Teile unter ihnen aufgeteilt und dem größeren Zusammenhang kapitalistischer Verwertung zugeführt. Nach zwei weltweiten Kriegen, denen viele blutige Konflikte geringeren Ausmaßes gefolgt sind, steht die Bevölkerung dieses Weltenteils erneut am Scheideweg. Wo aber sind, bitteschön, die Architekten der imperialen Konstruktionen geblieben? Oder hat man uns alleingelassen mit kleinen Imperien und noch kleinerem Verstand, dem ganzen traurigen Zustand unseres gegenwärtigen glücklosen Jahrhunderts? Oder sind wir Zeugen eines noch peinlicheren Spektakels, in dem nämlich Westeuropa und Nordamerika ausgerechnet dann das sinkende Schiff verlassen, nachdem sie nach eigenem lauthalsen Bekunden die unbestrittenen Kapitäne geworden sind? Zweifellos erleben wir gerade eine radikale Veränderung in der Haltung von Imperienkonstrukteuren.
Jahrhundertelang ist die Grundlage europäischer Politik ein aggressiver, alles einvernehmender Geist gewesen. Mit selbstbesoffener Bravour drang man überall in der Welt vor, plünderte, kolonisierte, veränderte Denkweise und kulturelle Identität ganzer Völker und verletzte ihren Stolz. Europa blühte, seine Städte wurden zu kosmopolitischen Zentren, Afrikaner akzeptierte man nur als Sklaven, Asiaten als Gehilfen – nur unter dieser Prämisse erlaubte man den Verarmten die Einreise als Immigranten. Es ist deutlich geworden, daß der Rest der Welt, aus Karton- und Blechhütten bestehend, verglichen mit Europas Extravaganzen zum reinen Slum geworden ist, und die Haltung der Imperienbauer ändert sich – denn aus der Welt jenseits ihrer Grenzen können sie keine Profite mehr herausholen.
Auch die Sowjetunion existiert als Imperium nicht mehr, und ihr Zerfall hat ein zusätzliches Flüchtlingspotential geschaffen, Massen von unzufriedenen und ausgeschlossenen Bürgern, im eigenen Land und in den ehemaligen Satellitenstaaten. Die Wanderdünen imperialer Strukturen kann man nur im Lichte von Aufstieg und Fall der politischen Ideen verstehen, die diese Konstruktionen einmal gestützt haben.
Doch Europas und Nordamerikas Herzen und Köpfe verschlossen sich der Flüchtlingsproblematik schon vor dem Zerfall des sowjetischen Reiches. Wenn es hochkam, waren die Bestimmungen, die den Zuzug nach Westeuropa beschneiden sollten, von Land zu Land verschieden, aber das Gesamtgesetzwerk, das die Einwanderung nach Europa begrenzte, existierte schon lange vor der Ankunft der somalischen, tamilischen, ugandischen und ghanaischen Flüchtlinge an diesen Küsten. Was das Vereinigte Königreich betrifft, traten die Bestimmungen im Rahmen von Gesetzen in den siebziger Jahren in Kraft. Es waren die ersten ihrer Art und folgten auf Idi Amins Rauswurf aller asiatischen Bürger aus Uganda – die übrigens britische Untertanen waren. Damit erließ das Innenministerium erstmals Gesetze, die den Zuzug von Fremden begrenzte. Früher waren jahrelang Schwarze angeheuert worden, die die Arbeit machen sollten, für die sich auf den Britischen Inseln kein Weißer mehr fand. Ungelernte Arbeiter waren schiffeweise von den Westindischen Inseln gekommen, und wenn man sie auch nicht gerade freundlich behandelte, so durften sie doch immerhin einreisen und bleiben. Aus anderen, noch weiter entfernten Ecken des frühen Imperiums folgten ihnen viele, und zur Begeisterung der Bürger des Königreichs eröffneten sie allerorten Restaurants, in denen man gut und billig essen konnte. Allerdings war gleich von Anfang an klar, daß die Weißen des „alten Commonwealth“ mit mehr Menschlichkeit und Zuvorkommenheit behandelt wurden als die anderen. Inzwischen war Großbritannien bereit, seine imperiale Verantwortung abzugeben – durch Anschluß an ein neues Imperium der feineren Art, der Europäischen Gemeinschaft nämlich.
Euro-Imperium und Euro-Menschlichkeit
Die Schlüsselbegriffe sind wieder „Integration“ und „Desintegration“ von Imperien, beide provozieren die alten Ideen, die sie zu ersetzen hofften. Es ist bestürzend, zu sehen, wie alte Traditions-Clubs von neuen, exklusiven Clubs ersetzt werden, in denen Kreditwürdigkeit das Kriterium ist. Es tut mir leid, dies sagen zu müssen, aber mein Eindruck ist, daß da einem besorgten politischen Establishment jede Fähigkeit abgeht, mit der Komplexität der gegenwärtigen Situation fertigzuwerden – und eine Vision für die Zukunft hat es erst recht nicht. Natürlich gehört es zur Komplexität unserer Welt, daß es keine einfachen Antworten mehr gibt. Und auch die Fragen sind nicht einfacher geworden. Wie soll man zum Beispiel die Rückkehr der politischen Ideenwelt der dreißiger Jahre begreifen oder den Aufstieg einer neonazistischen Rechten? Die Europäische Gemeinschaft ist die größte geschlossene Wirtschaftseinheit, die es je gab, und die Bewohner dieses Imperiums verstecken sich hinter bröckelnden Barrikaden: der Rhetorik der Angst und der Hilflosigkeit, einer Angst vor Flüchtlingsflut und Aufstieg der Ultrarechten. Wie aber kann man die Marginalisierten – die Flüchtlinge, die an unsere Menschlichkeit appellieren sollten, wenn sie vor bankrottgegangenen Ideologien flüchten –, wie kann man sie für Probleme verantwortlich machen, die Europas hohe Arbeitslosigkeit mit sich bringt, oder für die traurige Wahrheit, daß ein großer Teil ideologisch verführter Europäer sich auf die Politik der Dreißiger rückbesinnt, auf die Naziversion der geballten Fäuste, den Heil-Hitler-Wahn?
Und dennoch sind genau das die schlauen Fälschungen, die derzeit herumgereicht werden, die Lügen, die man unter der Rubrik „Einbruch der menschlichen Flut“ veröffentlicht; sie sind nichts anderes als unverblümt falsche Darstellungen der Tatsachen. Bedienen sich die Konstrukteure der Imperien hier fanatischer Hetzreden, um auf die Flüchtlinge abzulenken, die plötzlich Schuld sein sollen an Europas Unfähigkeit, seiner Zukunft zu begegnen, einer Zukunft, deren Ethos schon jetzt ernsthaft in Zweifel steht?
Trotz alledem bin ich doch optimistisch. Ich vertraue darauf, daß es überall einen Vorrat menschlicher Großzügigkeit gibt, einen Vorrat an gutem Willen, der sich immer wieder neu auffüllt. Viel ist zum Beispiel schon über die beeindruckende Großzügigkeit verarmter Afrikaner gesagt und geschrieben worden, die das wenige, was sie haben, mit den Neuankömmlingen und Flüchtlingen teilen. Und man muß wohl auch erkennen, daß die an den Rand ihrer eigenen Gesellschaft gedrängten Klassen mit den ankommenden Flüchtlingen um knappe Ressourcen konkurrieren müssen und deshalb wohl immer auf die eine oder andere Weise ihre Ressentiments zeigen werden.
Ob Euro-Imperium oder nicht: ich glaube, daß die reichhaltige Quelle menschlicher Großzügigkeit, der humane Instinkt, sich wieder erholen wird. Auch ich habe aus diesem Vorrat des guten Willens schöpfen können, aus dieser Euro-Menschlichkeit, so daß ich überleben konnte. Und bestimmt werden auch nach mir noch viele diese Erfahrung machen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen