Die Türkei erteilt Kohl eine Lektion

■ Ankara bezeichnet Zusicherung an den Kanzler, den Journalisten Stefan Waldberg bald freizulassen, als „Irrtum“ / Waldberg bleibt 15 Monate länger in Haft

Berlin (taz) – Nach dem Türkei- Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl letzte Woche hieß es in Bonn: „Ziel erreicht.“ Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen waren beseitigt. Dafür hatte der Kanzler deutliche Worte zu Menschenrechtsverletzungen vermieden.

Jedoch hatte er auf Bitten von Schülern, Abgeordneten und dem Deutschen Journalistenverband nach dem Schicksal des Freiburger Journalisten Stefan Waldberg gefragt. Der 28jährige war im Januar vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir wegen angeblicher Kurierdienste für die Kurdische Arbeiterpartei PKK zu 45 Monaten Haft verurteilt worden. Großzügig versprach man Kohl eine wohlwollende Überprüfung des Falles und baldige Freilassung. Sofort ging er mit dieser Meldung an die Öffentlichkeit, ohne zu wissen, daß sie „getürkt“ war.

Nachdem zuvor das türkische Justiz- und das Außenministerium stets versichert hatten, daß die maximale Haftdauer 42 Prozent der Gesamtstrafe betrage, meldete sich drei Tage nach Kohls Rückkehr eben jenes Justizministerium bei der deutschen Botschaft in Ankara, um mit dem Ausdruck des Bedauerns mitzuteilen, man habe sich geirrt, die Mindesthaft betrage 75 Prozent der Gesamtstrafe. Das sind 15 Monate mehr.

Wer immer diesen „Irrtum“ der Justizexperten veranlaßt hat, das Ergebnis hat sich die deutsche Diplomatie selber zuzuschreiben. Aus Angst um die bilateralen Beziehungen wurde niemals energisch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und Freilassung gedrängt. Psychische Folter wurde zu „starkem Druck“ heruntergespielt. Das ermunterte die Türkei, verspätet „Rache“ für das kurzfristige Waffenembargo im letzten Jahr zu nehmen.

Getroffen hat es einen jungen Journalisten, an dem nicht nur ein Exempel für kritische Recherche im umkämpften Siedlungsgebiet der Kurden vollzogen wurde, sondern der nun auch noch für die verkorkste Bonner Türkei-Politik büßen muß. Als die Meldung des Justizministeriums in Ankara eintraf, hatte der Kanzler Stefan Waldberg längst wieder vergessen. Fast stundengleich verkündete er auf einem Kongreß in Berlin, daß Pressefreiheit ein Menschenrecht sei. Das hätte er drei Tage vorher betonen sollen, anstatt die „überzeugende Haltung“ der türkischen Staatsführung in puncto Menschenrechte zu loben.

Schließlich war kurz zuvor erneut ein ausländischer Journalist als „Agent“ gefangen worden. Der britische Journalist Andrew Norman Penny wurde – wie sieben Monate zuvor Stefan Waldberg – bei seiner Einreise aus dem Nordirak am 15. Mai verhaftet. Anhand von Fotos und Tonbandinterviews wurde auch er als „PKK-Propagandist und Kurier“ beschuldigt, denn auch er war zwischen den Hochburgen der PKK südlich der Türkei und Europa unterwegs.

Ein Journalist der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem (Freie Debatte), der mit Penny über 26 Stunden verhört worden war, schilderte, daß er persönlich nur als Dolmetscher herangezogen wurde, denn Berichte über PKK- Lager im Nordirak sind in der türkischen Presse nicht mehr ungewöhnlich. Zur erwarteten Entlassung des britischen Journalisten kam es jedoch nicht. Wie von einem „Zauberstab“ getroffen, schickte ihn das Gericht in Silopi in Untersuchungshaft. Die „geheimnisvolle Hand mit dem Zauberstab“ blieb unerkannt, aber die Absicht, erneut ein Exempel zu statuieren, war unverkennbar.

Was deutschen Diplomaten und Spitzenpolitikern bei Stefan Waldberg nicht gelungen war, führten dieses Mal die in der Türkei wesentlich unbeliebteren Briten vor. Andrew Norman Penny, der „nur“ einen Tag (anstatt einer Woche) verhört worden war, bekam einen Prozeßtermin nach einer Woche (und nicht erst nach mehr als einem Monat). Außerdem wurde er nach dem ersten Verhandlungstag auf freien Fuß gesetzt. Dies darf als Erfolg der britischen Diplomatie gewertet werden, denn sicher ist, daß es keinen Wandel im Umgang mit der Pressefreiheit in der Türkei gegeben hat. Nach wie vor werden Journalisten gerade in den kurdischen Gebieten behindert, willkürlich verhaftet, gefoltert und notfalls gleich erschossen. Helmut Oberdiek