„Strategie der Spannung“ in Italien?

Die Attentäter von Florenz haben ihr Ziel erreicht: Jeder beschuldigt jeden, Korruption und Mafia werden Nebensache / Der Staat stellt Uniformierte auf und zeigt so Präsenz  ■ Aus Florenz Werner Raith

„Wir haben“, brummt Brandmeister Giacomo Baluardi am frühen Abend, als er hinkend und todmüde nach elfstündigem Einsatz aus dem Sperrgebiet um die Uffizien herauswankt, „nun eine Gewißheit: wer immer mit der Bombe Italien ins Chaos stürzen wollte – es ist ihm gelungen.“

Baluardi sagt das ganz und gar ohne Sarkasmus, dazu tut ihm sein Bein zu weh, auf das gleich dreimal herabstürzende Steine gefallen waren, als er bei den Bergungsarbeiten der fünf Leichen und der dreißig Schwerverletzten in vorderster Linie tätig war. Als er sich am Nachmittag erstmals aufrichtete und in einen der mittlerweile von den Helfertrupps mitgebrachten Fernsehapparate schaute, „da wurde es mir erst so richtig übel“ – nicht wegen der teilweise zur Unkenntlichkeit verkohlten Menschen nach dem Hundertkilobombenanschlag auf das historische Zentrum von Florenz, sondern „wegen der Präzision, mit der nach einer solchen grauenhaften Tat die Politiker nicht zusammenstehen und nach den Ursachen und nach Strategien dagegen fahnden, sondern wie sie die Toten und das Grauen nur für ihre nächsten Ziele instrumentalisieren.“

Seit sich am späten Donnerstagnachmittag die Vermutung eines Attentats zur Gewißheit verdichtete, die ersten Sprengstoffrückstände gefunden wurden und damit die erste Vermutung einer Gasexplosion ausgeräumt war, sitzen hohe und höchste Krisenstäbe überall beisammen. In der toskanischen Hauptstadt rückten Regierungschef Ciampi und Senatspräsident Spadolini, Innenminister Mancino und der regionale Antimafia-Staatsanwalt Vigna ein. In Rom versammelte sich der Sicherheitsrat nicht nur von Polizei und Carabinieri, sondern auch der Generalstab des Heeres und setzte gar seine Truppen in Alarmbereitschaft – auch das ein Zeichen höchster Verwirrung, denn diesen Befehl darf nur der Verteidigungsminister erteilen. Doch ansonsten beherrschte Ratlosigkeit und schnelle Instrumentalisierung der Bluttat die Szene.

In Mailand beschlagnahmten die dort besonders starken „Ligen“ das Attentat sofort für sich. Es sei ein Anschlag auf ihren politischen Erfolg, die Drahtzieher wollten den Vormarsch der separatistischen Opposition stoppen, behauptete Leghe-Chef Umberto Bossi. In der Hauptstadt Rom bezog die neue Regierung den Anschlag dagegen auf sich: die Attentäter wollten das neue Wahlgesetz verhindern oder die Haushaltssanierung blockieren. Als Gegenmaßnahme kreisten Hubschrauber über der Stadt, brausten Polizeiautos mit Sirenengeheul durch die Straßen, sperrten Carabinieri wichtige Punkte ab wie das Parlament und den Regierungssitz, den Zentralsitz des Rundfunks und einige Gerichtsgebäude, und alle fünfzig bis hundert Meter steht in der Innenstadt ein Posten mit Maschinengewehr und zeigt staatliche Präsenz.

In den Fernsehsendungen sitzt so ziemlich alles beisammen, was in Sachen Terrorismus und Mafia Rang und Namen hat – und alle sind überzeugt, den Schlüssel zur Tat in den Händen zu halten. Es ist natürlich jeweils genau die Bestätigung der These, die die Betreffenden schon seit Monaten predigen. Während die einen von ablenkenden Racheaktionen der Mafia nach den jüngsten Festnahmen und Ermittlungserfolgen sprechen, sehen andere die üblichen Geheimdienstler, Logenbrüder und Dunkelmänner am Werk, die die Anklagen gegen oberitalienische Politiker und verflossene Parteichefs kippen wollen. Für den neofaschistischen Abgeordneten Tremaglia handelt es sich dagegen um einen „Akt der Linken, die wieder mal erkennen müssen, daß sie in der Regierung nicht zum Zug kommen, wie schon in den siebziger Jahren.“ – „Zum Kotzen“, knirscht Brandmeister Baluardi.

„Strategie der Spannung“ – das Wort geistert nicht erst seit diesem Anschlag herum; es wurde auch nicht erst seit dem Bombenanschlag vor zwei Wochen in Rom wieder ausgepackt: in Erinnerung kommen die Jahre des Bombenterrors, die mit dem Anschlag auf die Landwirtschaftsbank von Mailand im Dezember 1969 begannen und mit den 85 Toten bei der Sprengung eines ganzem Flügels des Bahnhofs von Bologna 1980 ihren Höhepunkt erreichten.

Mit Ausnahme von einem Attentat – eine Falle, in die man drei Carabinieri gelockt hatte – und dem Anschlag auf den Schnellzug Neapel–Bologna wurde keine der Explosionen gerichtlich geklärt, die zusammen über hundert Opfer gefordert hatten. Erst vorige Woche wurde nach neunzehnjähriger erfolgloser Ermittlung das letzte große Verfahren – Anschlag auf eine Gewerkschaftsversammlung in Brescia – mit Freisprüchen abgeschlossen und damit endgültig ohne Ergebnis beendet.

Polizeiexperten verweisen allerdings bei den Anschlägen auf einen wichtigen Unterschied: hatte der Bombenterror der siebziger Jahre vor allem auf den „gemeinen Menschen“ gezielt, also die Verunsicherung durch Attentate auf Demonstrationen, Versammlungen und dicht frequentierte Plätze, so ist diesmal die Objektauswahl viel höher angesetzt: in Rom war es das feinste und nobelste aller Stadtviertel, das vor zwei Wochen mit einer kleinen, aber überaus effektiven Bombe in Angst und Panik versetzt wurde, in Florenz nun ist es eines der ehrwürdigsten Gebäude des Mittelalters, die älteste Akademie der Welt („Giorgiofoli“), die faktisch weggesprengt wurde, und das noch dazu gleich hinter dem Wahrzeichen der Stadt, dem Palazzo Vecchio mit seinem einmaligen Turm. Zerstört oder beschädigt wurden auch zahlreiche Gemälde der weltberühmten Uffizien – ein „Attentat auch auf ein Herzstück italienischer Kultur“, wie der ebenfalls in die Stadt geeilte Kulturminister Ronchey klagt. Der Stadtpräfekt hat bereits seinen Kollegen in Rom um psychologische Hilfe bei der Abwehr von Anrufen indignierter Notablen-Gattinnen gebeten, die die „sofortige Wiederherstellung der allgemeinen Sicherheit in unserem Viertel“ fordern.

Rezepte, wie man das bewerkstelligen könnte, hat freilich niemand. So scheint die physische Präsenz von Uniformierten derzeit den Verantwortlichen wohl die einzige Reaktion, mit der sie Entschlossenheit visualisieren können. „Das aber“, meint Brandmeister Baluardi, und nun wird er doch noch sarkastisch, „wird genauso lange wirken, bis die nächste Bombe hochgeht, und die wahrscheinlich noch näher am trauten Heim eines Politikers. Dann, genau dann, werden sie anfangen, alles zu tun, was sie glauben, daß die Attentäter wollen – auch wenn sie gar nicht wissen, was die im Grunde wirklich wollen.“