Pflege: Arbeitnehmer zahlen doppelt

Koalition einigt sich auf Pflegeversicherungsmodell mit sechs Karenztagen  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Es sei „der schönste Satz“, den er an diesem Ort jemals ausgesprochen habe, schwärmte gestern Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) vor der Bundespressekonferenz: Die Pflegeversicherung wird eingeführt. So ist es zumindest in dem Kompromißpapier zu lesen, auf das sich Union und FDP Donnerstag nacht nach jahrelangem Streit geeinigt haben.

Trotz Kritik von allen Seiten hielt die Bonner Koalition an der Einführung von Karenztagen fest. An bis zu sechs Tagen pro Jahr sollen Arbeitnehmer im Krankheitsfall keinen Lohn mehr erhalten. Lediglich in Fällen von Schwangerschaft, Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten gelten Ausnahmen. Schärfere Kontrollen bei Arbeitsunfähigkeit sollen das Ihre tun, um den „erheblichen Mißbrauch“ (FDP-Fraktionschef Solms) des Krankenscheins weiter einzuschränken. Blüm nannte den Koalitionskompromiß einen „schwergewichtigen Beitrag zur Entlastung der Wirtschaft“. Etwa elf Milliarden Mark betrage der Arbeitgeberanteil zur Pflegeversicherung, Pflegeversicherung und Karenztage brächten den Unternehmen aber eine Kostenentlastung von über 18 Milliarden.

Die Freidemokraten gestanden der Union zwar zu, daß die Pflegeversicherung als Pflichtversicherung unter dem Dach der Krankenversicherung etabliert wird. Um zu verhindern, daß die Beiträge der Arbeitgeber in späteren Jahren den Kompensationen davonlaufen können, baute die Koalition auf Druck der FDP jedoch mehrere Kostenbremsen ein. So soll die Pflegeversicherung nicht die vollen Pflegekosten erstatten, sondern lediglich Zuschüsse bis zu einer – nach heutigen Preisen – maximalen Höhe von 2.100 Mark.

Überdies – weiteres Zugeständnis an die FDP – wird ab Januar 1994 zunächst nur die häusliche Pflege bezuschußt, um den Aufbau eines ambulanten Pflegesystems, etwa mit Sozialstationen, voranzutreiben. 1994 und 1995 bleibt der Beitragssatz deshalb auf ein Prozent begrenzt. Erst 1996, wenn auch die stationäre Pflege bezuschußt werden soll, steigt er auf 1,7 Prozent an. Das Beitragsvolumen liegt nach Blüms Rechnung dann bei 28 Milliarden Mark.

Dennoch brauchte die FDP- Fraktion am Donnerstag abend mehr als vier Stunden, bis einige Minuten nach Mitternacht eine knappe Mehrheit von 41 Abgeordneten gegen 29 Neinstimmen und fünf Enthaltungen den Kompromiß billigte. Die Kritiker trieb die Sorge um, daß vor allem kleinere und mittlere Unternehmen mit niedrigem Krankenstand kaum von der Karenztagslösung profitieren würden.

Noch im Juni will Blüm einen Gesetzentwurf in den Bundestag und damit die Versicherung unter Dach und Fach bringen. Gestern waren jedoch noch viele Fragen offen. So will die Bundesregierung von Ländern und Kommunen einen jährlichen Beitrag von drei Milliarden Mark fordern. FDP- Abgeordnete zweifelten: „Das glaubt ja wohl keiner, daß die was abgeben.“

Die Bonner Koalition braucht zudem die Zustimmung des SPD- dominierten Bundesrates, um auch für Beamte eine Kompensationslösung durchzusetzen. Dabei ist völlig offen, wie diese Lösung aussehen soll. Bereits in der FDP- Fraktionssitzung äußerte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger rechtliche Bedenken gegen ein Karenztagsmodell für Beamte. Solms nannte deshalb gestern eine mögliche Alternative: Eventuell müßten den Beamten zwei Urlaubstage gestrichen werden.

Diese ungeklärten Fragen, das räumten gestern auch Koalitionsexperten ein, könnten die Versicherung „per Zeitablauf“ doch noch zu Fall bringen. Ausdrücklich haben Union und FDP vereinbart, die Versicherung solle „nur in Kraft treten, wenn die vorgesehenen Kompensationen in vollem Umfang rechtlich verwirklicht werden“. Damit haben die Regierungsfraktionen auch für den Fall vorgesorgt, daß Arbeitgeber, Gewerkschaften und SPD das Karenztagsmodell durch eine Verfassungsklage zu Fall bringen. „Wir hoffen“, machte sich Schäuble gestern Mut, „daß uns die Tarifpartner nicht ganz alleine lassen.“

Für solche Hoffnungen gab es gestern keinerlei Berechtigung. Scharfe Kritik am Koalitionskompromiß kam nicht nur von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Auch der Deutsche Industrie- und Handelstag nannte den Koalitionskompromiß „Augenwischerei“, weil die Gefahr einer Kostenexplosion nicht ausgeräumt sei. Als „Gewinnspiel“ für die Unternehmer kritisierte andererseits der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, Ulf Fink, die vereinbarte Karenztagslösung.