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Zwischen Bahnhof und Straßenstrich

Straßenkinder: Die Zahl der minderjährigen Trebegängerinnen steigt / Cool bleiben in jeder Lebenslage / In Köln versuchen die Sozialarbeiterinnen von Mäc-Up, den Mädchen Halt zu geben  ■ Aus Köln Eva-Maria Thoms

Köln, Johannisstraße, an einem dunklen Abend. Im Schrittempo fahren die Wagen ums Karree. Fiestas aus Bergheim, BMWs aus Bonn, S-Klasse aus Düsseldorf. Der Fahrer liegt fast auf seinem Lenkrad und blinzelt freundlich durch die Windschutzscheibe. Drei Meter weiter hält er. Eine halbe Minute passiert gar nichts. Dann parkt er ein. Ein zweiter Wagen hält. Der Fahrer läßt Licht und Motor an. Er wartet. Drei Frauen um die 30 auf dem Mädchenstrich. Den Freiern ist das Alter offensichtlich egal. Wir gehen zurück zum Hauptbahnhof. Wir sind auf der Suche nach Petra.

Das letzte Mal haben die beiden Sozialarbeiterinnen Petra vor einer Woche gesehen – mit Drogen vollgepumpt, auf dem Horrortrip. Hektisch im Kreis laufend, völlig weggetreten und doch für Sekunden klar genug, um Hilfe zu betteln. Jeanette Breuer wird heute noch blaß, wenn sie an diesen Abend denkt. Die beiden Sozialarbeiterinnen standen vor einem furchtbaren Dilemma. „Das vernünftigste wäre gewesen, sofort einen Krankenwagen zu rufen und Petra in die Landesklinik bringen zu lassen“, sagt sie. Genau das aber hätte gegen jede Regel ihrer Arbeit verstoßen. Jeanette Breuer und Martina Ferner arbeiten im Mäc-Up, dem Mädchencafé nahe des Hauptbahnhofs. Das Café ist ein Projekt sogenannter niederschwelliger Sozialarbeit und die beliebteste Anlaufstelle der jungen Trebegängerinnen. Die Mädchen aus der Bahnhofsszene sind für die Sozialarbeit eine schwierige Klientel. Auf jegliche Autorität – ob Eltern, Polizei oder Jugendamt – reagieren sie mit unverhohlenem Mißtrauen und offener Ablehnung. Erzieherischen Maßnahmen jeder Art entziehen sie sich. Wichtigster Grundsatz im Mäc-Up ist deshalb, den Mädchen niemals etwas aufzuzwingen – auch keinen Krankenwagen. In dieser Nacht hat Jeanette Breuer schlecht geschlafen. Am nächsten Morgen telefonierte sie die Krankenhäuser und Polizeistationen durch. Nirgendwo war Petra aufgelesen worden.

Auch Sabine hat Petra seit Tagen nicht gesehen. Jetzt steht sie in der Bahnhofshalle herum, tritt von einem Fuß auf den anderen und kaut gelangweilt auf einem Brötchen. Ihre Augen sind entzündet, rot und geschwollen, die Lider von gelber Salbe verklebt. Sabine gehört zu den wenigen Jugendlichen aus der Bahnhofsszene, die eine feste Bleibe haben. Sie hat ein kleines Zimmer, irgendwo im Norden der Stadt. Dennoch ist sie jeden Tag am Bahnhof. In ihrer Bude hält sie es alleine nicht aus. Es ist erst kurz vor neun Uhr. Bis halb eins muß sie noch aushalten. Dann kommt Mike mit dem Laster vorbei. Sie wird die Nacht auf dem Beifahrersitz verdösen, während Mike seine Autoersatzteile ausfährt. In der Halle ist nicht viel los. Nach einer Schlägerei auf dem Bahnhofsvorplatz ist die Polizei angerückt, die Szene hat das Feld geräumt. Sabine zählt ihr Kleingeld und überlegt laut, sich eine Bratwurst zu kaufen. Nach kurzer Überlegung steckt sie das Portemonnaie seufzend wieder ein. Sabine ist zu dick, und sie leidet darunter. Statt zur Wurstbude zu gehen, begleitet sie uns auf eine Runde durch den Bahnhof.

Zweimal in der Woche ziehen die Mäc-Up-Mitarbeiterinnen ihre abendlichen Runden an den Treffpunkten der Treberszene. Es ist die einzige Möglichkeit, mit Mädchen in Kontakt zu kommen, die aus eigenem Antrieb das Café nicht besuchen. Und die zuverlässigste Methode, den Überblick über die Szene zu behalten. So beobachten die Sozialarbeiterinnen von Woche zu Woche, wie neue Gesichter am Bahnhof auftauchen. Die Szene wächst beständig, und die Zahl der Minderjährigen nimmt zu. Es sind halbe Kinder, zum Teil erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt, die von zu Hause oder aus Heimen ausgerissen sind und nun auf der Straße leben. Sie übernachten rund um den Dom, und wenn es kalt wird, in Parkhäusern. Manchmal schlafen sie bei Freiern, für einige Wochen bei Freunden oder in Häusern für obdachlose Frauen. Sie nehmen Drogen, sie stehlen und prostituieren sich. Sie führen ein Leben am Rande des Abgrunds – immer in der Gefahr, in die harte Drogenszene (und die völlige Selbstaufgabe) abzustürzen.

Im Gegensatz zu den Junkies, die sich an anderen Plätzen der Stadt treffen, herrschen in ihrer Szene die Regeln der Leistungsgesellschaft. Wer in der Gruppe bestehen will, bringt Leistung: trendiges Aussehen, ein toller Freund und souveränes Auftreten gehören dazu. Die Kontakte der Mädchen zur harten Drogenszene sind eher locker. Man trifft aufeinander, dort, wo Drogen gehandelt werden. Doch in letzter Zeit bröckelt die Grenze zwischen Treber- und Fixergruppen. Seit die Polizei auf Verlangen der Stadt die Drogensüchtigen aus dem Herzen der Einkaufszone Kölns herausdrängt, rückt man enger zusammen. Die Mitarbeiterinnen aus Mäc-Up beobachten die ersten engeren Kontakte zwischen Trebegängerinnen und Leuten aus der Fixerszene. Prompt ist eines der Mädchen im Café mit harten Drogen erwischt worden – ein Tabu, das bis dahin von allen Mäc-Up-Besucherinnen fraglos akzeptiert worden war.

Eine Woche später ist Petra wieder da. Arm in Arm mit zwei Freundinnen steht sie vor dem Eingang zur Bahnhofshalle und ruft laut hallo. Petra ist heute gut drauf, oder, besser: sie ist völlig aufgedreht und erzählt in einer Tour. Erzählt von dem Freier, bei dem sie den halben Tag verbracht hat, und von ihrer Mutter, die ihr die Unterschrift für den Personalausweis verweigert – und das, obwohl sie jetzt 16 Jahre alt ist. Petras Mutter, erzählt Jeanette Breuer später, steht den Ausbrüchen ihrer Tochter völlig hilflos gegenüber. Sie ahnt mehr, als daß sie weiß, wie verwahrlost das Mädchen wirklich ist. Sie schwankt zwischen Versuchen, Petra nach Hause oder in ein Heim zu zwingen, und völliger Teilnahmslosigkeit.

Außer ihrer Mutter hat Petra heute zwei Probleme. Das erste ist ein Fotograf, dem sie unterschrieben hat, daß er Bilder veröffentlichen darf, die er von ihr am Bahnhof geschossen hat. Petra fällt es schwer, nein zu sagen. Jetzt hat sie Angst, daß diese Fotos in einer Illustrierten (nur) dem Jugendstaatsanwalt neues Material liefern werden. Das zweite Problem ist ihre beste Freundin Susanne. Susanne wollte zum Bahnhof kommen und Petra die bequemen Schuhe mitbringen. Jetzt ist sie nicht da, und Petra schmerzen die Zehen. Susanne ist seit Tagen verschwunden. Als letzte hat Sabine sie gesehen. Da stand sie hinter dem Bahnhof auf dem Strich und hatte Angst vor ihrem Freund: zu wenige Freier, zu groß war der Widerwille an diesem Tag. Petra macht nicht den Eindruck, als ob sie sich um ihre Freundin sorgt. Vielleicht sind im Moment die Schuhe wichtiger. Vielleicht ist Streß mit dem „Typen“ und Angst vor seiner Gewalttätigkeit zu alltäglich.

Die coole Fassade, hinter der die Mädchen ihre seelischen Nöte verstecken, bricht nur selten auf. Die Mäc-Up-Mitarbeiterin Rita Rixen-Willmann erinnert sich, daß Petra einmal in einer schwarzen Phase täglich stundenlang vor dem Spiegel im Schminkraum des Cafés gesessen und geweint hat. Wenn die Mädchen ihre Gefühle im Griff haben, läßt sich nur an körperlichen Symptomen ahnen, daß sie sich hinter dem zur Schau getragenen Selbstbewußtsein oft fühlen wie der letzte Dreck. Die meisten haben Eßprobleme – sind magersüchtig wie Petra oder ersticken ihren Frust mit Pommes und Schokolade wie Sabine. Andere leiden unter Allergien und Hautausschlägen, wie eine der Trebegängerinnen, deren rechte Hand mit roten Pusteln bedeckt ist: die Hand, mit der sie anschafft.

Es gibt Tage, erzählen die Mitarbeiterinnen des Mäc-Up, an denen auch über ihnen das ganze Elend mit Wucht zusammenschlägt. Tage wie jener Freitag, an dem sich die Mädchen im Café geprügelt haben, weil die eine den Freund der anderen einen Zuhälter genannt hatte. Die Arbeit mit den Trebegängerinnen zehrt auch deswegen, weil das, was in diesen Mädchen zerstört wurde, so schnell nicht reparierbar ist. Den meisten ist schon in der Kindheit das Vertrauen zu anderen gründlich ausgetrieben worden. Die Erinnerung an teilnahmslose, unzuverlässige, gewalttätige Eltern läßt sie ihre Unabhängigkeit auf der Straße fast genießen. „Wie groß die Gefahr ist, der Gewalt zum Opfer zu fallen, sich mit Aids oder Gelbsucht zu infizieren oder in die harte Drogensucht abzurutschen, ist den meisten Mädchen gar nicht bewußt“, sagt Jeanette Breuer.

Erfolgsaussichten im klassischen Sinne der Sozialarbeit gibt es im Mäc-Up nicht. Eine Tatsache, die Kommunalpolitiker und Jugendämter – in Köln genauso wie in Frankfurt, Hamburg oder Berlin – nur schwer akzeptieren können. Einrichtungen wie das Mäc-Up, das vom Sozialdienst Katholischer Frauen getragen wird, werden als exotische Projekte gerne vorgezeigt und doch immer wieder mißtrauisch beäugt. „Daß wir einige der Mädchen in eine Lehre vermitteln könnten, ist völlig illusorisch“, sagt Rita Rixen-Willmann. Ziel kann zunächst nur sein, das Selbstbewußtsein der Mädchen zu stärken, damit sie sich gegenüber ihren Zuhältern behaupten und bei Freiern auf die Benutzung von Kondomen bestehen.

Köln, im Frühjahr. Seit einigen Wochen kommt Petra nicht mehr zum Bahnhof. Petra ist schwanger, und zwar fast im siebten Monat. Lange Zeit hat sie sich nicht darum gekümmert, hat weiter Drogen genommen, weiter angeschafft. Die Freier, erzählt sie, fanden das toll. Auch die Warnung von Ärzten, daß sie das Kind allein durch ihre Magersucht wahrscheinlich schon geschädigt hat, quittierte Petra mit einem Achselzucken. „Das hat sich erst geändert, als sie im sechsten Monat das Kind zum ersten Mal gespürt hat“, erzählt Jeanette Breuer. Einen Monat zu spät. Sie hat dann auf Drogen verzichtet. Und darunter gelitten, mit klarem Kopf anzuschaffen.

Nach vielen Gesprächen hat Petra sich jetzt überzeugen lassen, daß sie vom Bahnhof weg muß. Vor zwei Wochen ist sie abgereist – weit weg von Köln und vom Bahnhofsmilieu, in ein Mutter-Kind- Heim im Mittelgebirge. „Es war ihr ernst mit dem Umzug“, sagt Rita Rixen-Willmann, die das Mädchen auf der Fahrt begleitet hat. Im Heim angekommen, habe sie entschlossen ihr Zimmer in Beschlag genommen, Poster an die Wände gehängt und ihre Kuscheltiere auf den Möbeln verteilt. Wenn sie durchhält, dann könnte es die Chance für Petra sein, aus dem Treberleben auszusteigen.

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