■ Die Gesellschaft muß den Staat zum Handeln zwingen: für die doppelte Staatsbürgerschaft jetzt
: Trauerbekundungen genügen nicht mehr

Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln, nun Solingen: es sind die Orte, die im politischen Gedächtnis bleiben, und nicht die Namen der Opfer. Es sind auch zu viele geworden.

Noch immer weiß man aber genau, wer an diesen Stationen der neuesten Geschichte der neuen Bundesrepublik versagt hat, wer geschwiegen hat, falsch ausgesagt, Volksverdummung und -verhetzung betrieben, wer abwesend war: zu Hoyerswerda schwieg der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, in Hünxe ließ man den Bürgermeister mit der allfälligen Beschwichtigung allein, in Rostock gaben Seite, Kupfer und Seiters die falsche Töne an (bis in den Untersuchungsausschuß hinein) – in Mölln erst war mit Kinkel (um Schaden vom deutschen Ansehen zu wenden, nehmen wir an) ein Vertreter der Regierung zu besichtigen. Von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, qua Amt zuständig für Symbole statt für (Partei-)Politik, fehlte an diesen Orten jede Spur: das höchste Amt im Staate ist von einem Loch besetzt. Und auch Kanzler Kohl, politischer Repräsentant des deutschen Volkes, ob wir wollen oder nicht, saß die Skandale am mobilen Arbeitsplatz aus. Da ist nirgends nichts gewesen, außer hier – in Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und Solingen. In Eberswalde, Saal, Buxtehude, Hörstel, Marzahn, Magdeburg, Neuruppin, Ostfildern-Kemnat, Breisig, Stotternheim, Berlin, Wuppertal, Erfurt. Und in über hundert weiteren deutschen Städten, wo AusländerInnen, Obdachlose, AsylbewerberInnen – immer stärker gefährdet – leben.

Der Staat BRD hat sich selbst bisher auf jeder möglichen Ebene gründlich blamiert und demontiert: polizeilich (in Rostock und anderswo), politisch (an jedem Ort) und symbolisch (siehe oben). Die Gesellschaft, wacher als ihre gewählten Repräsentanten, hat vielfach das ihre getan, diese Ausfälle wie auch die systematischen Rechtsverschiebungen zu kompensieren: mit Lichterketten, Schweigemärschen, Anti-Rassismus-Buttons, Fluchthilfe-Aktionen, Demonstrationen – zuletzt an der Bannmeile Bundestag. (Ihre Ohnmacht und die Machtlosigkeit ihrer Aktionen stehen hier nicht zur Debatte – die zivile Gesellschaft erwartet mit geprüfter Gelassenheit die Denunziation all dieser Aktionsformen ...) Diese Differenz zwischen Rechtsstaat und Gesellschaft, gerade erst wieder erwiesen durch die Entscheidungen der letzten Woche zum §218 und gegen das Grundrecht auf Asyl, ist in der Tat nicht weiter überraschend.

Das Insistieren auf diesem Widerspruch, seine Erklärung zum Antagonismus, vereint naturgemäß die guten Menschen, also die Linke, und läßt sich jederzeit trefflich begründen. Die bürgerliche Presse beispielsweise hat hier eine ziemlich furchtbare Rolle gespielt: die Süddeutsche Zeitung, mit der Ausnahme einer redaktionellen Stimme immer publizistische Kämpferin für den sogenannten „Asylkompromiß“, gibt in der gestrigen Ausgabe zu, daß die erwartete Deeskalation leider nicht stattgefunden habe ... Das ist die bekannte konservative Dialektik, die erst Realpolitik betreibt, um nach deren Durchsetzung wieder die liberalen Werte nebst zugehörigem Humanismus hochzuschreiben – immer noch aber jener Unerschütterlichkeit vorzuziehen, mit der die FAZ am ersten Erscheinungstag nach Solingen in ihrem Hauskommentar den Opfern keinen ganzen Satz widmet. Statt dessen ist wie immer ihre Sorge, daß „der Staat an Ansehen verliert“ – und daß „gegen ,Randale‘ nicht streng eingeschritten wird“: nicht einmal gestern bekam der Kettenhund frei, der sich täglich für Deutschland heiser bellt.

Jetzt geht es aber um mehr.

Es geht um den Schutz hier lebender AusländerInnen. Um ein ziviles Zusammenleben. Um das Eintreten gegen ein Deutschland, wie es in zehn Jahren oder schon nächstes Jahr aussehen kann: ein Ort, an dem „ethnische Konflikte“ an der Tagesordnung sind, ausgehalten von einer schweigenden Mehrheit, ausgetragen von politisch nicht mehr erreichbaren Protagonisten. Wenn wir Weimarer Zustände vermeiden wollen – also eine Realität, in der alles Zutrauen in den „gesellschaftlichen Konsens“ wie „das Gewaltmonopol des Staates“ geschwunden sind, in der die Verrohung fast aller Formen politischer Auseinandersetzung die Abdankung der Demokratie bewirkt –, wenn wir das nicht wollen, müssen wir uns jetzt stark machen für die unmittelbarste politische Forderung. Und die heißt: doppelte Staatsbürgerschaft jetzt.

In der gestern auf dem Titel der taz veröffentlichten Erklärung wurden die PolitikerInnen aufgefordert, diese Gesetzesänderung sofort durchzusetzen. Die „European Association of Turkish Academics“ fordert darüber hinaus Trauerkundgebungen der Bundesregierung am 3. Juni – und sie hat recht damit. Zu den Trauerfeierlichkeiten an diesem Tag müssen natürlich Bundespräsident von Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl, Bundestagspräsidentin Süssmuth und möglichst viele weitere Personen von Rang und Namen erscheinen. Und an deren Rande muß natürlich – wie von türkischen Organisationen und Repräsentanten immer wieder gefordert – über die doppelte Staatsbürgerschaft verhandelt werden: die Gesellschaft ist jetzt in Bewegung, und zwar in der allergefährlichsten. Wenn nun, zum ersten Mal, Gesellschaft und Staat gemeinsam reagieren – wir mit Trauerdemonstrationen, die politischen Instanzen mit Gesten und direkten Maßnahmen –, läßt sich vielleicht noch eindämmen, was uns wirklich überflutet: nicht die Asylantenschwemme, sondern der Rechtsradikalismus. Die Opfer des deutschen Rassismus werden davon nicht wieder lebendig. Aber vielleicht lassen sich weitere Opfer verhindern. Elke Schmitter