Nein, Kanzler Kohl wird auch nicht zur Trauerfeier für die fünf in Solingen ermordeten türkischen Immigrantinnen kommen. Die Bundesregierung übte sich gestern vor allem in Warnungen vor türkischer Selbstjustiz und „Ausschreitungen“. In Solingen streiten Immigranten über das Für und Wider von Gegengewalt, während viele Deutsche Verständnis für die Randale in der Innenstadt zeigen.

Nach dem rassistischen Mord: Ratlose Entschlossenheit

„Ausländerfeindliche Schmierereien sind so gut wie gar nicht mehr vorhanden. Die Rechten sind auf Tauchstation gegangen, die geben sich nicht mehr zu erkennen.“ Das, so sagt Rüdiger Raguse, Betriebsrat auf der Hoesch-Westfalenhütte, sei die augenfälligste Änderung im Betrieb. Vor gut einem halben Jahr, unmittelbar nach dem Mordanschlag von Mölln, hatten die Arbeitnehmervertreter aller Hoesch-Werke in Dortmund ein „antifaschistisches Aktionsprogramm“ verkündet und konsequent umgesetzt. Dazu gehörte die „Säuberung der Betriebe von neonazistischen Schmierereien und Parolen“ ebenso wie die ständige Diskussion des Themas auf den Vertrauensleutesitzungen.

Gemeinsam mit der Geschäftsleitung wurde am 4.12.1992 ein Brief – Überschrift: „Gebt der Ausländerfeindlichkeit keine Chance“ – an alle Hoesch-Belegschaftsmitglieder verfaßt, in dem es wörtlich hieß: „Verhaltensweisen, die sich gegen unsere ausländischen Mitarbeiter richten – seien es Schmierereien, Beschimpfungen oder persönliche Belästigungen – werden zukünftig mit allen zur Verfügung stehenden disziplinarischen Mitteln geahndet – bis hin zur Entlassung wegen Störung des Betriebsfriedens.“

Diese Ankündigung zeigte Wirkung. Ausländerfeindliche Parolen – auch anonym hingeschmierte – sind im Betrieb seitdem die absolute Ausnahme. Daß sich bei den Schmierern selbst eine Einstellungsänderung vollzogen hat, glaubt Betriebsrat Raguse indes nicht. „Wir haben im Betrieb die Einstellungen, die sich auch außerhalb des Betriebes finden, aber im Betrieb wird anders diskutiert als zu Hause.“ Die konsequente Ächtung von Ausländerfeindlichkeit hat aber nicht nur die Rassisten zurückgedrängt und eingeschüchtert. Deutsche und Ausländer, so die Beobachtung von Horst Hepp, Betriebsratsvorsitzender des Hoesch- Werkes „Union“, „gehen inzwischen bei uns kameradschaftlicher miteinander um. Es wird mehr miteinander geredet.“

Hepp, der im November 92 dafür geworben hatte, überall ausländerfeindlichen Äußerungen zu widersprechen – „die erste Schuld am rechten Terror hat der, der schweigt, der zusieht, der glaubt, es betreffe ihn nicht“ –, war daraufhin selbst von Rechtsradikalen telefonisch bedroht worden. Gerade weil es in den letzten Monaten ruhiger geworden sei, habe der Solinger Mordanschlag bei ihm persönlich und im Betrieb „unglaubliches Entsetzen“ ausgelöst. Ob daraus in den nächsten Tagen neue Aktionen bis hin zu Arbeitsniederlegungen folgen werden, wußten die betrieblichen Funktionäre gestern noch nicht einzuschätzen. Von Arbeitsniederlegungen war in den Betrieben des Reviers selten die Rede.

Viele türkische Organisationen, wie etwa der europäische Verband türkischer Akademiker, fordern von den Gewerkschaften, die Betriebe am Donnerstag während der Trauerfeier mindestens zu „einer dreißigminütigen Arbeitsniederlegung zu veranlassen“ (siehe Dokumentation auf dieser Seite). Die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf- Mathies plädierte gestern für eine fünfzehnminütige Arbeitspause „als Zeichen für die Solidarität und der stillen Trauer“. Die IG-Chemie will ihre Betriebsräte auffordern, Ausländerhaß zum Thema von Betriebsversammlungen zu machen. Jedes Gewerkschaftsmitglied, so der IG-Chemie-Vorsitzende Hermann Rappe, müsse am Arbeitsplatz und außerhalb des Betriebes gegen Ausländerfeindlichkeit angehen.

Jetzt erst recht in Deutschland bleiben

Das Essener „Zentrum für Türkeistudien“ hat gestern die Politik aufgefordert, „Zeichen zu setzen und endlich die hier lebenden Ausländer als einen Teil dieser Gesellschaft anzuerkennen“. Es sei an der Zeit, „daß Ausländer, die ganau wie Deutsche ihren Verpflichtungen in dieser Gesellschaft nachkommen, in derselben Weise auch die Rechte genießen können“. Wenn Menschen türkischer Herkunft im Gegensatz zu EG-Ausländern etwa das kommunale Wahlrecht verweigert würde, verwundere es nicht, daß die deutsche Öffentlichkeit sie „nicht wirklich als Mitbürger ansieht“. Die in Deutschland lebenden Türken, so sagte Cigdem Akkaya, stellvertretende Leiterin des Essener Zentrums zur taz, fühlten sich zwar „abgelehnt und überhaupt nicht mehr sicher in diesem Land“, aber es gebe sehr viele, die „jetzt erst recht“ in Deutschland bleiben würden, „damit der Rechtsradikalismus keinen Erfolg hat“. Daß insbesondere hier aufgewachsene junge Türken jetzt einem neuen Nationalismus zuneigten, sei der Vernachlässigung und Ablehnung seitens der deutschen Gesellschaft geschuldet. Walter Jakobs