Unendliche Balläufe

Christoph Hein verweigert sich der Chronistenpflicht – und brilliert im „Napoleon-Spiel“  ■ Von Martin Krumbholz

Dieses Buch ist in mancher Hinsicht erstaunlich. Von Christoph Hein, von wem sonst, hat man in dieser Saison den kompetenten Wende-Roman erwartet, gleichsam das Buch zum Film, der vor uns allen im vereinigten Deutschland abläuft, den wir hin und wieder belachen (denken wir nur an Günther Krauses Fahrt ins Glück), hauptsächlich aber wohl beweinen dürfen. Doch wozu? Wozu in Fiktion verwandeln, was die Imagination so wenig beschäftigt, weil es als sogenannten Realität tagtäglich mit Penetranz auf uns einstürmt? Ein Schriftsteller – auch einer, der sich wie Hein selbst gern als Chronisten bezeichnet – ist keineswegs dazu verpflichtet, wie ein Musterschüler sich unausgesetzt an der Chronik der laufenden Ereignisse abzuarbeiten. Diese Aufgabe können wir, in einer demokratischen Gesellschaft, sehr wohl den Zeitungen überlassen. Hein verweigert sich, spielt souverän sein „Napoleon- Spiel“, und als faire Mitspieler sollten wir seine Entscheidung akzeptieren und unser Blatt aufnehmen. D'accord?

Manfred Wörle hat einen ihm völlig fremden Menschen umgebracht. Nicht aus Geldgier, nicht im Affekt, sondern einzig und allein als Krönung eines Spiels, das für ihn das Leben ausmacht. Er nennt diesen Akt eine „unerläßliche Tötung“ – begangen aus Notwehr, denn die einzige Alternative wäre der Freitod gewesen. Zwischen Wörles Lebenslinie und der des Opfers findet keine Überschneidung statt außer jener fatalen Karambolage, die für das Opfer tödlich endet. Über das Opfer gibt es nichts zu sagen: Es ist das perfekte Neutrum, ein plattes Nichts. Das ist die Bedingung für seine Wahl gewesen, denn jedes emotionale oder sonstige Interesse hätte die Makellosigkeit, die absolute Zweckfreiheit des Spielzeugs beeinträchtigt. Das Opfer ist also tot, der Täter sitzt im Untersuchungsgefängnis und umwirbt in einem langen Brief seinen Anwalt Fiarthes – und uns.

Wie Johannes Clamans, der Held von Camus' Roman „Der Fall“, auf den Hein hin und wieder anspielt, stammt Wörle „aus einer ehrbaren, aber ruhmlosen Familie“. Sein Vater war ein Stettiner Schokoladenfabrikant, der mit Kriegsende seine Firma preisgeben mußte, später in Thüringen einen Briefmarkenhandel aufzog, der wiederum mit Gründung der DDR in Staatsbesitz überging. Gewinn und Verlust sind die Grunderfahrungen des heranwachsenden Sohnes – logisch, daß sie ihm bald als Quintessenz des Lebens erscheinen; und auch nicht ganz verwunderlich, daß er sich gegen die emotionalen Risiken des Verlustes mit der griffigen Losung „Das Leben ein Spiel“ abzusichern versucht. Zum Jurastudium geht Wörle nach West-Berlin, später als Referendar nach Boppard am Rhein, noch später als selbständiger Anwalt nach West-Berlin zurück. Natürlich ist er ein glänzender Anwalt, ein „Staranwalt“, wie die Zeitungen sagen, und es dauert nicht lange, bis er die erste Million zusammenhat.

Doch „Das Napoleon-Spiel“ ist nicht der Roman eines Lebens, sondern der Roman einer Obsession. Das Leben ein Spiel, und im Spiel geht es darum, die Regeln zu beherrschen und innerhalb des Regelsystems seine Möglichkeiten optimal auszureizen. Deshalb kann Hein sich die dramaturgische Freiheit erlauben, ganze Komplexe der Lebensgeschichte auszulassen oder nur anzudeuten, deren Kenntnis Wörle beim Adressaten des Briefes schlicht voraussetzt – ein Trick, den man einem Autor normalerweise übelnimmt, weil die Auslassungen gewissermaßen „das Fleisch der Geschichte“ betreffen. Der Roman, den Hein uns erzählt, spielt sich in Wörles Kopf ab, und er besteht aus nichts anderem als einer endlosen Variation möglicher Spielzüge und Balläufe. Am Billardtisch in Kampen auf Sylt – standesgemäß, wie es sich versteht – spielt der Staranwalt alle denkbaren Operationen durch, die nur zwei Zielen dienen: der Perfektion und dem Nervenkitzel. Das Dilemma besteht darin, daß auf einem bestimmten Niveau beide Ziele einander ausschließen.

Am Ende steht der Entschluß, einen Menschen zu töten. Juristisch gesehen zweifellos ein Mord, denn was Wörle eine „unerläßliche Tötung“ nennt, dürfte für den Staatsanwalt schlechterdings einem niederen Beweggrund entspringen, und ebenso ist das Moment der Heimtücke gegeben, weil das Opfer in jedem Sinn ahnungslos ist. Sich vor Gericht auf Napoleon zu berufen, das weiß Wörle, wäre lächerlich. Doch Napoleon hat im Rußlandfeldzug nicht nur ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt, sondern mehrere hunderttausend. „Ein Spieler ist der, der setzt.“ Im Zweifelsfall heißt das: alles setzen, um alles zu gewinnen oder alles zu verlieren. Napoleon war der größte aller Spieler – und er verlor. Wörles „Moskau“ ist die Tötung eines Unbekannten. Wörle gewinnt. Der Gegner ist tot; das Gericht wird – allen greifbaren Tatsachen zum Hohn – den Täter freisprechen. So verrückt ist das.

Ist Wörle ein Monstrum? Wie auf alle Fragen, die er sich selbst stellt, weiß der Erzähler auch darauf eine schwer zu widerlegende Antwort. Monströs ist das Fremde. In uns allen steckt ein Hitler, aber nur in wenigen von uns ein Einstein. Also ist Einstein das Monstrum. So scheint es auch die Tagespresse zu sehen, denn niemand kommt auf die naheliegende und auflagensteigernde Idee, Wörle ein Monstrum zu nennen.

„Das Napoleon-Spiel“ überzeugt am wenigsten an den raren Stellen, wo der Autor Wörles Position willkürlich überzieht, um sie mit inkriminierenden Vorzeichen zu versehen. Es geht natürlich nicht darum, Wörle in des Wortes unangenehmer Bedeutung „vorzuführen“. Man füllt nicht 200 Seiten, nur um zu moralisieren; nicht einmal ein Oberschulrat oder Theologieprofessor würde sich dazu verstehen. Wie in allen seinen Büchern interessiert Hein das geistige Klima, der ideengeschichtliche Kontext, in dem der Spieler sein Spiel möglichst mit Bravour spielt – oder eben daran gehindert wird.

Christoph Hein verfährt selbst stets regeltreu. Er bleibt im Bild. „Die Ritter der Tafelrunde“ zum Beispiel waren ein Stück über den Artus-Kreis und seinen Niedergang. Zufällig entstand das Stück 1989, und ebenso zufällig ereignete sich im selben Jahr die finale Beschleunigung der Paralyse des Politbüros und schließlich der Exitus des Staates DDR. Diese Umstände ließen das Stück zunächst im Glanz einer listigen Prophetie erscheinen: nichts anderes als jener „glückliche Zufall“, den der Spieler, wie Wörle sagt, „ins Kalkül ziehen muß, wenn sein Spiel wirklich fehlerlos sein will“. Ein knappes Jahr später freilich kam das Stück – unweigerlich und ausschließlich als Parabel gelesen – bereits auf einem Hinkebein daher, ein matter Abglanz der Realität, die es hämisch überholt hatte. So kann das Glück des Spielers von heute auf morgen umschlagen und sich ins glatte Gegenteil wenden.

Auch im „Napoleon-Spiel“ verläßt Hein seinen Spieltisch nicht. Er begibt sich nicht auf eine höhere (moralische) Position, um seinen Helden zu begutachten. So fühlt man sich als Leser ernstgenommen. Hein folgt seiner Denk-Figur bis an die Grenzen nicht nur des Erlaubten, sondern eben des Denkmöglichen. Der Schluß des Romans – die Ausführung der Tat – ist brillant konstruiert, und es würde den Tatbestand der Spielverderberei streifen, wollte man hier Einzelheiten vorwegnehmen. Insgesamt fehlt es nicht an kostbaren Apercus, und die letzten 13 Seiten gehören zum Besten, das dieser Autor je geschrieben hat. Vergleichbar dem denkwürdigen Prolog der Novelle „Drachenblut“.

Eine winzige Pointe innerhalb der Pointe nur sei zum Schluß noch verraten. Wörle hat einen Stiefbruder – er nennt ihn gehässig „den Bastard“ –, der in der DDR geblieben ist, dort sehr viel Pech gehabt hat und wenige Tage nach dem 9. November 1989 erstmals nach langer Zeit seinen Bruder wiedersieht – im Gefängnis. Der Häftling breitet seine Arme aus und ruft pathetisch: „Willkommen in der Freiheit!“ Ein schöner Witz. Es gehört eben auch zum Preis der Freiheit, daß sie demjenigen entzogen wird – und sei es für eine kurze Zeit –, der sie allzu intelligent genießt.

Christoph Hein: „Das Napoleon- Spiel. Ein Roman“. Aufbau Verlag, 208 S., gebunden, 29,80 DM