Dichte Beschreibung

Ironische Erkundungen — die Reporterin Jane Kramer hat den Prenzlauer Berg durchstreift  ■ Von Jörg Lau

Irgendwann haben die Ethnologen angefangen, ihre Wissenschaft zu verdächtigen. Der Selbstvorwurf war gravierend: Narzißmus. Wo man geglaubt hatte, von „den Wilden“ zu sprechen, fand man nun nichts als mühsam kaschierte Selbstbespiegelungen. Die Selbstzweifel der Ethnologen lähmten nun aber keineswegs die Produktion; sie wirkten sogar äußerst belebend: Da man im Fremden immer nur das Eigene gefunden hatte, begann man nun, im Eigenen das Fremde zu sehen. Seitdem gibt es eine Ethnologie des Inlands, die den Wilden gleich vor der Haustür findet. Diese Wissenschaft müßte eigentlich im neuen Deutschland, wo sich seit mehr als drei Jahren zwei verwandte, aber völlig entfremdete Stämme unter historischen Laborbedingungen begegnen, blühen wie sonst nirgendwo auf der Welt. Da sie es einstweilen noch nicht tut, bleiben wir auf die Berichte auswärtiger Forschungsreisender angewiesen.

Jane Kramers Buch „Eine Amerikanerin in Berlin“ kommt mit einem listigen Untertitel daher, der kokett Anspruch mit Understatement verwindet: „Ethnologische Spaziergänge“. Die Autorin ist dem amerikanischen Publikum durch ihre Feldstudien vom Alten Kontinent vertraut, die als „Letter from Europe“ in der Zeitschrift New Yorker erscheinen. Als solcher Brief ist auch der vorliegende Text vor etwa einem Jahr dort erstmals erschienen; Jane Kramer beschreibt darin den großen Wiedervereinigungs-Kater der deutschen Intellektuellen nach Wolf Biermanns Büchner-Preis- Rede im letzten Frühjahr, die wegen zweier Worte unvergessen ist: „Sascha Arschloch“. Das modische Beiwort „ethnologisch“ hat hier einmal einen guten Sinn, wie schon der erste Blick erweist: „Wolf Biermann“, so beginnt der Text, „ist ein folksinger – oder wie man auf Deutsch sagt: ein Liedermacher. Als junger Mann in Ostberlin wurde er der Bob Dylan der Deutschen Demokratischen Republik genannt.“ Das hat man hierzulande, wo Biermann inzwischen von Büchner und Heine hergeleitet wird, fast vergessen.

Jane Kramer hat ihren Bericht für ein amerikanisches Publikum geschrieben. Wüßte man nichts über die Entstehung des Texts, man könnte seine Anlage für einen großartigen literarischen Einfall halten. Man liest, wie die Autorin einer unvorbereiteten Öffentlichkeit verständlich zu machen versucht, worum es bei den Querelen des letzten Jahres ging, und spürt mit Lust das eigene Vorverständnis sinken. Worum also ging es in der Sache Sascha Anderson? Kramer meint, um „die Frage, was ,gute Deutsche‘ und was ,schlechte Deutsche‘ sind, und um die Frage, ob gute zu schlechten Deutschen werden, wenn sie einen wie Anderson akzeptieren, tolerieren oder entschuldigen, oder umgekehrt, wenn sie einen wie Anderson bloßstellen, ablehnen oder bestrafen.“

Kramer skizziert in lässiger Kürze – mit drei, vier Absätzen – Biermanns Vorgeschichte bis zur Ausbürgerung, um dann seinen Antagonisten einzuführen: „Der neue spiritus rector der Szene im Prenzlauer Berg war der Lyriker Sascha Anderson. Er war kein sehr guter Lyriker, aber wie kein anderer trug er zu dem bei, was in Ostdeutschland unter Bohème verstanden wurde. Die Franzosen haben einen Begriff für Anderson: er war ein débrouillard, will heißen, er war gewieft, kannte sich aus und konnte das System für die eigenen Interessen nutzen. Sascha war cool. Er kultivierte wie Arafat einen Dreitagebart und sah damit aus wie die Männer in amerikanischen Anzeigen für Unterwäsche. Über die Unterdrückung in Ostdeutschland sprach er nie. Er schien zu sagen, perfekte Politik sei, sich völlig aus der Politik herauszuhalten, Distanziertheit sei die höchste Form des Protests, und Kunst in höchster Vollendung sei möglicherweise infantil oder unverständlich oder beides zugleich – aber Genaues wußte niemand.“

Kramer entlarvt ohne auftrumpfende Gesten. Statt sich auf die poetologische Debatte um Andersons lyrisches Werk einzulassen, konfrontiert sie Zeilen aus seinen Gedichten – „denn ich bin deine/schwester dein schoß & die zwei/gesichtige maske ohne profil alles/fassend ein topf voll chaos gelöchert/von den sozialwissenschaften“ – mit den Parerga und Paralipomena seines Schaffens, den in der Normannenstraße registrierten Spitzelberichten: „Saschas Berichte waren nie so blumig wie seine Gedichte, weder erging er sich in Vermutungen noch übertrieb er und wurde emotional, wie das in Berichten vieler anderer Informanten vom Prenzlauer Berg der Fall ist. Seine Berichte waren geradezu von modellhafter Exaktheit und Objektivität – von der Art, wie man sie an Erstsemester in Journalistenschulen verteilt.“

„In schwierigen Zeiten“, meint Jane Kramer ernüchtert, „haben Deutsche kein Interesse an Ironie.“ Um so bedauerlicher, als ihr Buch voller Passagen ist, die das landläufige Vorurteil widerlegen, daß Ironie etwas mit moralischem Relativismus zu tun habe. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die „verwirrende moralische Landkarte“ des Prenzlauer Bergs zu skizzieren und vermeidet dabei wohlweislich den planen Moralismus, der die deutsche Debatte vor nun mehr als einem Jahr bestimmte. Die Deutschen, resümiert sie, „wollen, daß korrekt bereut wird. Sie reden deshalb gern in moralischen Metaphern – die Stasi steht für den kommunistischen Staat, der kommunistische Staat für den Nazistaat und der Nazistaat schließlich für ,Deutschland‘. Gelegentlich hat es den Anschein, als wollten sie zum Ausdruck bringen, sie könnten die Probleme ihrer Vergangenheit dadurch ,lösen‘, daß sie die Gegenwart bewältigen.“ Die Stasi-Debatte, so zitiert sie einen jüdischen Freund, habe womöglich „die Endlösung der Nazifrage“ zum Ziel gehabt.

Jane Kramer leistet sich nur gelegentlich Ausflüge in die Mentalitätssoziologie. In aller Regel dominiert die Reporterin über die Pamphletistin. So läßt sie zwar Widerwillen über den „Opferkult“ spüren, in dem sich im Laufe der Debatte Promis wie Wolf Biermann und Lutz Rathenow gefielen. Aber sie berichtet eben auch von jenen Stasi-Opfern, die weder Lust verspüren noch überhaupt Gelegenheit haben, aus ihren Leiden öffentlich Kapital zu schlagen.

Am Ende mag Jane Kramer nicht entscheiden, „ob die Aufdeckung der Stasitätigkeit den Deutschen jetzt dabei hilft, ernsthaft über ihre eigene Vergangenheit nachzudenken, oder nicht eher dabei, die Tatsache zu ignorieren, daß sie sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.“ Die Kunst der Ethnographin Kramer ist – zum Glück der Leserinnen und Leser – das Gegenstück zu den längst vorliegenden Leitartikeln: dichte Beschreibung. Jörg Lau

Jane Kramer: „Eine Amerikanerin in Berlin. Ethnologische Spaziergänge“. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Edition Tiamat, 103 Seiten, 22 DM