Der Tunnel wird dunkler

Lettland hat kein Konzept gegen die wachsende Arbeitslosigkeit / Das große Hoffen auf die Privatisierung / Die Russen als Sündenböcke  ■ Aus Riga Reinhard Wolff

Nicht weit von dem feinen Hotel, in dem westliche BesucherInnen abzusteigen pflegen und wo ein Frühstück fast einen halben lettischen Mindestlohn kostet, steht Varvara mit einem jungen Hund im Arm am Rande des Marktes. Den kleinen fünf Wochen alten Welpen möchte sie verkaufen – für umgerechnet 15 Mark, der Hälfte ihrer monatlichen Pension. Drei, vier Tage jede Woche steht sie hier, von 9 Uhr am Morgen bis 4 Uhr nachmittags. Wenn der Hund ihr geholfen hat, wieder einige Tage zu überleben, wird sie etwas anderes verkaufen. Sie will nicht betteln, wie andere RentnerInnen, die an den Gemüseständen entlangschleichen, um sich da und dort eine Kartoffel zu ergattern. Kaufen können sie Kartoffeln nicht mehr, nachdem die Lebensmittelpreise in Riga im vergangenen Jahr um 800 Prozent gestiegen sind.

Der Markt ist so groß wie einige Fußballplätze zusammen. Trotzdem herrscht ein gewaltiges Gedränge. Kleider, Zigaretten, Gemüse, Süßigkeiten, Alkohol, Medaillen der stolzen Sowjetarmee. Eigentlich kann man hier alles kaufen, was man braucht, und es ist billiger als in den Läden. Bis hin zu den Mars- und Snickers-Riegeln, den begehrten Westimporten. Früher war es umgekehrt: Man ging auf den Markt, um nicht so lange in irgendeiner Schlange zu stehen – auch wenn es mehr kostete.

Der Russe Sergey verkauft Strumpfhosen. Er tut dies für den Angestellten einer Fabrik, die ihre Leute nur noch in Naturalien bezahlen kann, mit dem, was sie produzieren. Strumpfhosen eben zum Beispiel. Den Erlös teilt Sergey mit seinem Auftraggeber. Er ist zufrieden, träumt vom großen Geld, dem Mercedes, den er sich einmal kaufen will. Regina hält verschiedene Kleider in der Hand. Sie kommt jede Woche zweimal aus dem Nachbarland Litauen herüber. Die Kleider hat sie zu Hause gekauft. Neben den Reisekosten bringt der Verkauf hier auch noch einen Gewinn für sie. Nicht weil die LettInnen reicher wären und mehr bezahlen könnten als die Leute bei ihr in Litauen, nur weil der Wechselkurs gegenüber dem Dollar in Riga soviel besser ist. Regina war Lehrerin, sie ist jetzt arbeitslos. Wie sie machen es viele, die täglich aus Litauen herüberkommen.

Zum Rande des Marktes hin verschwinden die Stände mit neuer oder kaum gebrauchter Ware: Hier sitzen und stehen die, die nur noch zerschlissene Schuhe, auseinandergeschraubte Maschinen, mehr Müll und Schrott als eigentliche Waren anzubieten haben. Und lange Reihen von Frauen und Kindern mit Plastiktüten in der Hand. Je westlicher, desto mehr Rubel bringen die Tragetüten. Hier kassiert mangels Masse auch nicht die Mafia ab, wie an den Ständen und Tischen in der Mitte des Marktes. Ein-, zweimal jeden Tag, wird mir erzählt, werde abkassiert: Wer sich weigere, sei am nächsten Tag von seinem Platz verschwunden. Auch die Polizei soll mitkassieren. Vielleicht gibt es da ja auch keine großen Unterschiede.

40 Prozent soll die Arbeitslosigkeit in Lettland inzwischen betragen. Von offizieller Seite wird immer noch an einer einstelligen Quote festgehalten, acht Prozent. Doch nach Schätzungen der Gewerkschaften sind inzwischen acht von zehn Unternehmen faktisch konkurs, können ihre ArbeiterInnen nur einen Teil der Arbeitswoche beschäftigen, keine Löhne mehr zahlen. In den vergangenen Wochen mußten ArbeiterInnen mit Hungerstreiks darum kämpfen, überhaupt eine Entlohnung zu erhalten: die immer wertloseren Rubel, Zigaretten, Kaffee oder eben Strumpfhosen.

Die bisherige Konzeptionslosigkeit in der Wirtschaftspolitik hat die Regierung damit entschuldigt, man müsse erst einmal die Parlamentswahlen abwarten. Wie und wann es danach besser werden soll, danach fragen die WählerInnen die PolitikerInnen aber vergeblich. Die meisten Parteien sehen das Heil im Westhandel, auch wenn viele westliche RatgeberInnen ihnen empfehlen, doch für die nächsten sechs, acht Jahre erst einmal zu versuchen, den Handel mit Rußland, Weißrußland, dem Osten zu entwickeln. Nach wie vor kommt die Mehrheit der Rohwaren aus Republiken der Ex-Sowjetunion, haben die damit produzierten Waren aufgrund ihrer Qualität auch nur dort eine Absatzchance. Die Hoffnung auf den Westen bedeutet Dauerarbeitslosigkeit für 30 Prozent, schätzt Ulf Eklund, Ökonom aus Schweden. Doch das sagt niemand den WählerInnen. Allenfalls wird es westlichen JournalistInnen eingestanden: Ja, mit 100.000 neuen Arbeitslosen sei bis Juli zu rechnen.

Arbeitsmarktminister Andris Berzinsh sieht vor allem drei Ursachen: Der Handel mit Rußland sei weitgehend zusammengebrochen, weil Moskau die von Lettland verlangten Preise nicht zahlen wolle oder könne; zwölf bis 15 Prozent der Industrie seien vollständig auf Produktion für das sowjetische Militär eingestellt gewesen und stünden jetzt still; 90 Prozent der Industrie sei noch in Staatsbesitz, hätte keine Absatzmärkte und, es mangele an potentiellen Käufern. Letzteres soll nach der Wahl besser werden, hofft Berzinsh: „Die politische Instabilität hat bis jetzt Interessenten abgeschreckt. Wenn die russischen Soldaten weg sind, wird es bessergehen.“ Und auch wenn es nun einige reiche LettInnen gebe, so fehle doch weithin einheimisches Kapital, um wirklich investieren zu können. Bald sollen Privatisierungszertifikate nach russischem Vorbild ausgegeben werden. Je länger jemand in Lettland gewohnt habe, desto mehr Zertifikate werde er erhalten. Die Zertifikate sollen den Status von Aktien haben und auch verkauft werden können. KGB-Agenten würden selbstverständlich keine erhalten, so Andris Berzinsh, „frühere politische Gefangene aber extra viele“. Alle Pläne scheinen noch unausgegoren zu sein.

Obwohl von einem Licht am Ende des Tunnels nur zu träumem ist, gibt Andris Berzinsh sich optimistisch: „Wir haben keine Alternative, als die Probleme zu lösen. Irgendwie muß es gehen.“ So viele Arbeitslose wie möglich sollen in Umschulungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach schwedischem Vorbild. Man wisse nur noch nicht, in welche Berufe man umschulen solle, da im Moment eigentlich keine Nachfrage bestehe und auch nicht klar sei, welche Wirtschaftszweige letztendlich überleben würden. „Vielleicht hilft der Tourismus oder andere Zukunftsberufe.“

Daina Odite, Chefin des Arbeitsamtes in einem Bezirk Rigas, in dem 80 Prozent RussInnen leben, hofft auch irgendwie auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach westlichem Muster. Der im Wartezimmer sitzenden Egita, der nach Ablauf des Mutterschutzes gerade gekündigt wurde, kann sie aber weder einen Job bieten noch Hoffnung auf konkrete Maßnahmen machen. Auch wenn Egita „jede Arbeit, die es gibt“, machen will. Dabei ist Egita als Lettin noch privilegiert. Der größte Teil der russischen Minderheit spricht nicht einmal lettisch. Und ohne Kenntnisse der neuen Staatssprache ist, so Odite, „derzeit überhaupt keine Arbeit mehr zu haben“. Man habe kürzlich Sprachkurse angeboten, doch das Interesse sei gleich null gewesen.

Frau Odite hat ihre eigene Theorie, aus der sie trotz ihrer Position kein Hehl macht: „Die meisten wollen ganz einfach gar nicht arbeiten. Zusammen mit der Sprache ist es diese Einstellung, welche das große Problem ist.“ Einen Zusammenhang der Problematik der immer mehr anwachsenden Arbeitslosigkeit in der russischen Bevölkerungsgruppe mit der Tatsache, daß man dieser die staatsbürgerlichen Rechte vorenthält, mag Daina Odite nicht sehen. Aber wohl diesen, daß das Zögern ausländischen Kapitals, sich in Lettland zu engagieren, mit der ungelösten Problematik der russischen Minderheit zu tun hat: „Nach den Wahlen wird das gelöst werden.“ Fragt sich nur, wie.