„Es herrscht Bürgerkrieg“

■ Auch in der dritten Nacht der Demonstrationen in Solingen gehen die Emotionen hoch / Autofahrer fährt Blockiererin an

Solingen (taz) – Er steht am Rande der besetzten Kreuzung auf einem Stromverteilerkasten. Dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte. In der Hand hält der korrekt gescheitelte, sehr gepflegt wirkende Mann ein Megaphon. „Lieber Herr Kohl, wir haben jetzt drei Jahre stillgehalten – und was ist passiert? Wir haben die Gewalt nicht angefangen, aber wir können jetzt nicht mehr zusehen wie unsere Frauen und Kinder ermordet werden. Ich möchte mich bei jedem Jugendlichen bedanken, der Scheiben eingeschmissen hat“. Da klatschen die jungen Männer, die sich nun schon in der dritten Nacht hier versammelt haben. Und dann fährt der etwa vierzigjährige Mann in fast akzentfreiem Deutsch fort, daß es auch ihm darum gehe, zu bekunden, „daß Ausländer und Deutsche friedlich zusammen leben, aber solange uns der Rechtsstaat nicht schützen kann, müssen wir uns selber schützen“. Heiser, in aggressiver Tonlage fügt er unter dem zustimmenden Gejohle der zumeist ausländischen Jugendlichen dies hinzu: „Seit Samstag ein Uhr zweiundvierzig herrscht in Deutschland Bürgerkrieg. Ohne Gewalt geht es einfach nicht mehr“. Einzelne, die „diese blinde Hetze“ zurückzuweisen suchen und für gewaltfreie Aktionen plädieren, werden von den Umherstehenden niedergeschrieen. „Hör auf mit dem Gelaber. Uns reicht es.“ Die Herkunft des Redners auf dem Stromkasten bleibt ungewiß. Er selbst bezeichnet sich später als Grieche. Er habe nur als Privatmann gesprochen, ohne jeden organisationspolitischen Hintergrund. Ob das stimmt, steht dahin. In jedem Fall treffen seine Formulierungen die Stimmung der am Dienstag abend in Solingen versammelten vorwiegend jungen Männer, die später in der Nacht wieder zahlreiche Scheiben zu Bruch gehen lassen werden. „Wenn noch ein Haus brennt, dann werden Städte brennen“, so der unbekannte Mann, der als einziger in ein Megaphon sprach. Seine These: Hätte es die gewalttätigen Demonstrationen direkt nach dem Möllner Mordanschlag gegeben, „würden die 5 Menschen noch leben“.

Im Verlauf der Nacht stellt sich derselbe Mann, der eben noch die Jugendlichen wegen ihrer Steinwürfe gelobt hatte, zwischen Steinewerfer und Polizei und ruft: „Hört auf zu werfen.“ Begonnen hatte das gefährliche Räuber und Gendarm-Spiel gegen 22 Uhr, nachdem die Polizei die besetzte Kreuzung Adenauerstraße/Ecke Kronprinzenstraße hin zur Schlagbaumstraße geöffnet hatte.

Auf der von etwa 4000 Personen besuchten friedlichen Demonstration hatte zuvor eine Rednerin der Grünen von ihrer „Angst“ während der letzten Nächte gesprochen und unter zaghaftem Beifall gesagt: „Auch ich bin froh, daß die Polizei da ist, obwohl es Fehler gegeben hat.“

Ein paar Stunden später gehen dann in der Schlagbaumer Straße auch die letzten noch heil gebliebenen Schaufensterscheiben zu Bruch. Am Rande der Demonstration war ein Autofahrer in eine Menschengruppe gefahren. Laut Polizei versuchte er, mit seinem Wagen eine von rund 200 Türken blockierte Kreuzung in der Innenstadt zu überqueren. Ein Mädchen wird angefahren und verletzt. Anschließend wollte der Fahrer fliehen. Die Polizei nahm ihn vorläufig fest und hatte die Kreuzung vorerst abgeriegelt. Das Mädchen wird mit Prellungen ins Krankenhaus gebracht und kann nach Mitternacht wieder entlassen werden. Zunächst war kolportiert worden, es habe sich um eine Türkin gehandelt. Das Opfer war jedoch eine 16jährige Deutsche.

Später in der Nacht werden wieder Autos demoliert. Viele gehören den zahlreichen in dieser Straße lebenden Ausländern. Ein älterer türkischer Familienvater sieht dem Treiben – vor seinem Haus stehend – fassungslos zu. „Ich schäme mich“, sagt der Mann mit bebender Stimme. Walter Jakobs