Stadtbild
: Säulen unter Naturszenerie

■ Wo das Stadtbild zu wünschen übrigläßt (27): Der Gleimtunnel muß für Autos geschlossen bleiben

In Berlin bilden die Trassen der Stadt- sowie der Eisenbahn künstliche Linien, die wie Oberleitungen den Stadtgrundriß durchziehen. Die Gleise verlaufen auf stählernen Konstruktionen oder, wie beim einstigen Güterbahnhof der Nordbahn, über Aufschüttungen. Wer mit dem Zug in die Stadt einfährt, dem teilt sich eine städtische Landschaft, die schnittig und kreuzungsfrei überfahren wird. Die Trassen für die Gleiskörper bilden zugleich Barrieren, die Quartiere trennen, ja ganze Stadtteile im Dunkeln hinter sich versinken lassen. Damit auch nach ihrem Bau um die Jahrhundertwende die Perspektiven im Stadtbild verlängert werden konnten, durchstoßen Tunnelanlagen die hohen Verkehrsbauwerke. Den Durchstich verzieren kunstvoll angelegte Brücken, die Ornament und Funktion zugleich darstellen. Zu den wenigen erhaltenen Tunnelbauten in Berlin zählt der Gleimtunnel an der Grenze zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg und Wedding. Im Unterschied zu den Eisenbahnbrücken über der Yorckstraße gleicht er keinem durchlöcherten Tunneltrümmerhaufen, von dem jährlich einmal mehr eine Eisenbahnbrücke fällt. Denn die 1904 errichtete Eisenbahnbrücke zur Unterführung der Gleimstraße hat als Kunstwerk im Schatten der Mauer überlebt. 78 gußeiserne Pendelstützen mit Basis und ionischen Stützenkapitellen machen die dunkle Unterführung zu einer fast sakralen Anlage. Der Säulenwald trägt Trogbrücken, von denen heute die Gleise in der Folge des Mauerbaus abgeräumt wurden. Das einstige Sinnbild für Mobilität, der Durchstich und die Überbrückung, hat sich gewandelt zum antikisierenden Denkmal unter einer flirrenden Naturszenerie, das nichts mehr gemein hat mit den Chiffren aus Oberleitungen und Unterführungen. Nach den glanzvollen Zeiten scheint der Ort prädestiniert für Fußgänger und Radfahrer. Eine Tunnelöffnung für Automobile stellte nicht nur das dichtbevölkerte Quartier auf den Kopf. Sie widerspricht auch der Gegenwart des Tunnels. Rolf Lautenschläger