Konkurrenzloses Bonbon

Benutzerfreundlich, klar und Grenzen überschauend: Heute beginnt das 3. „Jazz across the border“  ■ Von Christian Broecking

Der Radiojazzmann des WDR und SWF, Günther Huesmann, bringt seit geraumer Zeit nicht nur das Berendtsche Jazzbuch auf den neuesten Stand, sondern bemüht sich auch – nun schon im dritten Jahr – um ein Festivalereignis in der Stadt, das seinesgleichen noch sucht. Nachdem wir inzwischen allmonatlich ein bis zwei „Festivals“ mit Jazzverwandtem in der mauerlosen Stadt bestaunen dürfen, könnte man vermuten, daß den Veranstaltern langsam die Konzepte ausgehen, die wenigstens den Subventionierenden zu suggerieren vermögen, daß sich etwas tut.

Aber da sich kaum ein musikalisches Sujet so wortgewaltig anschmiegt wie der Jazz, freut man sich manchmal schon, wenn sich in den Köpfen der Veranstalter noch so viel Konzeptionelles abzuspielen gelingt, daß man zeitig genug erfährt, wo man nicht hingehen muß. Berlin hat sich einstweilen als der Jazzstandort profilieren können, wo die Grenzen in den Köpfen das einzig Verläßliche zu sein scheinen, was nach dem Schwund der Materie noch blieb.

Denn so neu war die Unübersichtlichkeit im Jazz, die der Gießener Jazzsoziologe Ekkehard Jost jüngst rediagnostizierte, in Berlin eigentlich gar nicht. Hierher brauchte der „homo festivaliensis“ sich bislang kaum bemühen. In Den Haag kann er dreizehn Jazzfestivals simultan mit 1.000 Musikern auf dreizehn Bühnen zehn Stunden pro Tag oder in Moers gar 300 Musiker und 400 Journalisten im größten europäischen Zirkuszelt bewundern – jener Rezeptionstypus, der durch zertreute Wahrnehmung, Weghören, erhöhte Reizschwelle und besinnungsloses Herbeiklatschen von Zugaben sich auszeichnet. Vom Festival-Größenwahn andererorts blieben wir einstweilen also verschont – von der „Sucht nach Novitäten“ leider nicht, mit der uns kopflastige Papierene allzuoft das Hören wohl lehren, aber nicht erleichtern wollen. Dezentral und preiswert darf es hier eben nicht sein, auch wenn sich das dann am Hörergebnis gemessen eher klein, ja fast kontemplativ und manchmal gar übersehbar ausnimmt.

Das diesjährige „Jazz across the border“ allerdings, das heute auf dem Terrassendach des Hauses der Kulturen der Welt beginnt, verspricht in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmefestivität zu werden, die verdient, Gehör zu finden: benutzerfreundlich, klar und Grenzen behutsam überschauend.

Eigentlich schon im vergangenen Jahr anvisiert, scheint das Programmthema des Festivals an Reife noch gewonnen zu haben: „Perkussion“ heißt da schlicht, was zu einem, wenn nicht dem wesentlichen, Katalysator im Öffnungsprozeß des Nachkriegsjazz und in der Emanzipation vom Quadrat- Swing werden sollte. War beim letztjährigen Thema „Strings“ der thematische Bezug beim einen oder anderen Act noch vermißt worden, will Huesmann jetzt mit „Perkussion“ einen Meilenstein an homogener Festival-Konzeption setzen, die nicht nur für das Senatsregal bestimmt scheint. Mit einem stagnierenden Festivaletat – jeweils 70.000 Mark kamen von Kultursenat und HdKW plus Einnahmen aus Vergabe von Konservierungsrechten an Radio Brandenburg und DS-Kultur – war den inflationär gestiegenen Reisekosten, Gagen und Hotelpreisen zwar kaum noch beizukommen, und dennoch werden auch an den vier folgenden Freitagabenden jeweils drei Gruppen ein interkontinentales Jazztrommeln in abendsommerlicher Atmosphäre zum besten geben. Auf dem Terrassendach der kulturschwangeren Auster, die Huesmann sicher nicht ganz zu Unrecht „den besten Jazzspielort der Stadt“ nennt.

Daß Trommeln nicht nur auf einem Drum-Set möglich ist, sondern auch auf Wasserflaschen, Ölfässern und anderem Industriemüll, mit Drum-Computern und Samplern, auf Djembe, Berimbao und Conga, davon hörten wir schon mal. Daß sich das, was sich eher wie Orff goes Nature and Industry oder postmodernes Sound- Recycling liest, auch Jazz nennen darf, überraschte den Veranstalter während der Programmrecherchen selbst. Zwar ahnte man schon beim Rückgriff auf Art Blakeys „Orgy in Rhythm“ (1957), einem der ersten reinen Perkussionsensembles im Jazz, wie akzentuiert sich seitdem eigene Perkussionsprachen entwickelt haben, nur wie stark dabei der ethnische Einschlag dominierte, war das eigentlich Verblüffende.

Wohltuend nun, daß wir das ganze Spektrum des Rhythmus weder in aufgeblasenen Einzeit- Projekten noch von im überkommenen Fusiongeist verhafteten Formationen vorformatiert bekommen, sondern gerade auch das Nebeneinander verschiedenster fester Gruppen mit Perkussionsschwerpunkt an einem Abend selbst deuten dürfen. Im Kopf des Zuschauers mag sich dann zusammenfügen oder auch nicht, was grenzüberschreitend als eigen respektiert wird: Die Welt des Jazz ist dialogisch auch dann, wenn man Wynton Marsalis nicht vollends folgen mag, demnach der musikalische Fortschritt allein noch in rhythmischer Komplexität liege. Die Geschichte der talking drum, der Musik als soziale Erfahrung und Kommunikation, mag mobilisiert werden und personifiziert in der Figur des Perkussionisten, dem sich der Jazz einst öffnete, am prominentesten in der Zusammenarbeit von Dizzy Gillespie und dem Conga-Spieler Chano Pozo in den vierziger Jahren. Jazz ist eine interkulturelle und -kontinentale Sprache, und der Rhythmus ist zu seinem wesentlichen Medium geworden. Erfreulich auch, daß man bei „Jazz across the border“ den leidigen Redefinitionsdiskurs gelassen übersieht, der – extrem konkursverdächtig – die neuen Grenzen des Jazz zu ziehen geneigt ist. Across the border: ein bestens ausgestatteter Nischenfüller, risiko-, entdeckungsfreudig und zumutbar und ein (fast) konkurrenzloses Bonbon gegen kopfhörige Grenzlastigkeit im Abseits des Mainstream.

Am heutigen Abend eröffnen drei Gruppen das Festival, die etwas vom spezifisch europäischen Umgang mit dem Thema abarbeiten werden, wenn der sich überhaupt derart lokalisieren läßt. „Der Schweiß fließt, die Hornhaut wächst“ bei Van Kampen, dem 1983 gegründeten vierköpfigen Quotenensemble aus Eindhoven, das auf einem zehn Meter breiten Perkussionskomplex Geschichten von der Ferne erzählen will. Von der schwarzen Musik zum Beispiel, von urafrikanischen Holzklängen bis zum New York Funk dieser Tage, mit verschiedensten Trommeln, Samplern und Midi-Pads. Thomson's Thang hingegen ist ein Electric-Groove Quartett, 1991 von Jazz-Pendlern aus Berlin, München und Paris begründet, das den Perkussionisten Cyril Atef featuren wird. Das „Magnetic Dance“ Ensemble des wohl renommiertesten türkischen Jazzmusikers, Okay Temiz, ist das abschließende Highlight des Abends. Über das weitere Festivalprogramm wird ausführlich berichtet.

Heute abend ab 18 Uhr im Haus der Kulturen der Welt.