Der Mann mit Maske

Der Spanier Miguel Induráin hüllte sich beim 76. Giro d'Italia in das rosafarbene Gewand des Spitzenreiters  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – „Der ,schöne Dunkle‘ hat sich die Maske vom Gesicht gerissen“, schrieb der Corriere della Sera, und gemeint war kein anderer als Miguel Induráin, der schon im Vorjahr Italiens Nationalheiligtum, den Giro d'Italia, souverän gewonnen hatte und beim Zeitfahren der 10. Etappe in Senigallia die Weichen für die Titelverteidigung stellte. Von Anfang an hatte der pedalfeste Larventräger keinen Zweifel darangelassen, daß „diesem Chrono in Senegal“, wie er sich auszudrücken beliebte, eine Schlüsselrolle beim 76. Giro zukomme. Zwar werde es wegen der Kürze der Einzelprüfung (28 Kilometer) nur geringe Zeitdifferenzen geben, aber der Ausgang bestimme maßgeblich die Taktik für die Bergetappen in den Dolomiten am Wochenende. „Wenn du das Rosa Trikot trägst, mußt du es verteidigen.“ Und der Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung sei ein gewaltiger.

Ähnlich sah es die Konkurrenz. Für Italiens Hoffnungsträger Gianni Bugno, Claudio Chiappucci, Franco Chioccioli, Maurizio Fondriest und Moreno Argentin kam es vor allem darauf an zu sehen, wo sie im Vergleich mit Induráin stehen. „Ich möchte vor allem Bugno kennenlernen“, sagte Bugno, und Chiappucci freute sich auf „die erste Verifikation meiner winterlichen Arbeit.“ Da hatte der kleine Kämpfer aus Uboldo vor allem Zeitfahren geübt, wohlwissend, daß er sonst gegen Induráin nicht die mindeste Chance hat. Außerdem habe er seine Position auf dem Fahrrad verändert: „Ich habe den Sitz angehoben, dadurch ermüde ich weniger und habe außerdem die Möglichkeit, mehr Kraft zu entwickeln.“

Chiappucci kam in Senigallia noch einigermaßen glimpflich davon, für den Rest kam es knüppeldick. „Induráin kommt erst nach 28 Kilometern richtig in Schwung“, hatte dessen Teamchef José Miguel Echávarri zuvor gesagt, doch diesmal reichte diese Distanz völlig, der Italienerschar eine vernichtende Niederlage beizubringen. Am schwersten erwischte es Bugno, der fast zwei Minuten verlor und sich persönlich aus dem Favoritenkreis verabschiedete: „Für mich ist der Giro gelaufen.“

Aber auch Chioccioli, Fondriest, der das erste Zeitfahren dieses Giro gewonnen hatte, und Argentin, bis dahin im Rosa Trikot, verloren weit mehr Zeit, als sie für möglich gehalten hatten. Miguel Induráin übernahm die Spitze und der Corriere della Sera meinte resigniert: „Es gibt nur zwei Wege zu vermeiden, daß Miguel Maria Larraya Induráin in den nächsten drei Jahren Giro d'Italia und Tour de France monopolisiert: die Zeitfahren abschaffen oder in der ersten Woche sieben Bergankünfte einrichten.“

Nach dem Debakel an der Adria versuchten sich die Italiener notdürftig zu trösten. Argentin beschwor die bislang höchst brüchige Einheit der Azzurri gegen den Spanier und setzt seine Hoffnungen darauf, daß Induráin „am Samstag in Asiago seine Solidität“ einbüßen könnte. Jetzt helfe nur noch bedingungsloser Angriff: „Um den Giro zu gewinnen, muß man den Mut haben zu riskieren, ihn zu verlieren.“

Angriff ist das Metier von Claudio Chiappucci, der sich neuerdings gern als „Teufel“ apostrophiert. Der Name sage ihm zu, „weil er ein Synonym für Aggressivität, Verwegenheit ist, für jemanden, der furchtlos ist und Schrecken verbreitet. So bin ich.“ Er sei derjenige, der den „heroischen Radsport“ wiederentdeckt habe, und das will er in den Alpen beweisen. In Senigallia verlor „Il Diavolo“ 1:14 Minuten auf Induráin, für seine Verhältnisse erträglich. „Ich bin mit meinem Zeitfahren zufrieden“, sagte er. Auf den Bergetappen der nächsten Woche will Chiappucci, wo es geht, Zeit gutmachen, um dann beim Bergzeitfahren in Sestrière am 11. Juni, wo sich nach allgemeiner Einschätzung der Giro endgültig entscheiden wird, seinen größten Coup zu landen.

Zuvor gilt es aber, Induráin anzugreifen, „wenn er schwach ist“, eventuelle Einbrüche des Spaniers auszunutzen. „Er hat immer dasselbe Gesicht“, weiß Chiappucci, „immer scheint er ruhig zu sein. Aber es gibt den Moment, in dem dieses Gesicht eine Maske ist. Und ich werde es wissen. Ich schaue immer allen ins Gesicht und ich weiß, wann Induráin die Maske trägt.“ Der Titelverteidiger, der nach eigenem Bekunden diesen Giro gar nicht unbedingt gewinnen will, sondern nur als Aufgalopp für sein einziges großes Saisonziel, die Tour de France, betrachtet, sieht der Entlarvung gewohnt gelassen entgegen. „Soll er doch angreifen“, sagte der elegante Baske ungerührt, „wenn Chiappucci weiß, wann ich die Maske trage, wenn er alles weiß, dann soll er halt machen.“