Material unter anderen

Rainald Goetz erhielt den Dramatikerpreis beim Stückewettbewerb in Mülheim/Ruhr  ■ Von Gerhard Preußer

Eine echte Premiere gab es in Mülheim in diesem Jahr. Das Stück hieß „Jurydiskussion“ und wurde am letzten Abend aufgeführt. Zum ersten Mal diskutierte die Jury öffentlich, stimmte öffentlich über die ausgewählten Stücke ab, und jedes Mitglied begründete seine Entscheidung. Das Risiko öffentlicher Kunstbewertung scheint gesunken zu sein. Niemand braucht mehr zu fürchten, sein spontaner Redefluß genüge nicht, um seine Kompetenz zu beweisen. Im Zeitalter der radikalen Subjektivierung ästhetischer Urteile sind Debatten über Kritierien hinfällig. Was zählt, ist die Selbstinszenierung der Juroren. Gemessen am medialen Vorreiter dieser Entwicklung, dem Literarischen Quartett, war das Mülheimer theatralische Sextett zwar altmodisch uneitel, aber auch intellektuell dürftig und sprachlich restringiert. Die Kriterien, nach denen geurteilt wurde, wechselten in fröhlicher Inkonsequenz. Mal wurde moralisch bewertet, mal mit der Kategorie des Neuen, mal mit der Kategorie der Tradition. Mal wurde Realitätsnähe gefordert, mal fehlte das Geheimnis.

Das Ergebnis war entsprechend fragwürdig: Rainald Goetz erhielt den Preis für seinen Monolog „Katarakt“, den dritten Teil seiner gerade erschienenen Trilogie „Festung“. In diesem satzzeichenlosen Textmonstrum für einen Schauspieler läßt uns ein Mann wie einst der selige Krapp in Becketts „Das letzte Band“ teilhaben an seinem Bewußtseinsstrom, der aus zerfahrenen, aber immer wieder hellsichtig werdenden Reflexionen über sein Leben von Geburt bis Tod besteht. Hier grübelt jemand über seine ganz persönlichen Erfahrungen nach, doch in einer Sprache, die so abstrahiert, daß alle ihre eigenen Erfahrungen subsumieren können.

Judith Herzberg, die holländische Autorin in der Jury, votierte für dieses Stück dann auch, weil es eine Figur zeige, die man noch nicht kenne und doch schon kenne wie sich selbst. Johanna Schall, Schauspielerin und Jurymitglied, empfahl das Stück, weil es zur Freundschaft mit der Figur einlade. So stimmten alle drei Regisseur Benjamin Korn (und damit alle Vertreter der Theatermacher in der Jury) für diesen Text, der einen Nullpunkt des Theaters bezeichnet: ein reißender Wortstrom, sonst nichts. Nichts an ihm ist theatralisch, außer der radikalen Subjektivität und der rhetorischen Struktur, die einen Sprecher erfordern. Erst und vielleicht nur Jürgen Holtz, der Schauspieler der Uraufführung, und sein Regisseur Hans Hollmann haben daraus ein Theaterereignis machen können. Wenn eine Funktion des Mülheimer Preises ist, andere Theater zum Nachspielen des prämierten Stückes zu ermutigen, dann war das keine gute Entscheidung. Einen schlechteren Schauspieler wird diese Textmasse erschlagen.

Die Alternative, für die die unterlegene Minderheit der beiden Theaterkritiker Michael Merschmeier und Michael Skasa plädierten, hat dieses Problem nicht. Peter Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ reduziert das Theater auf die gespiegelte Nullstelle völliger Wortlosigkeit. Hier kann das deutsche Theater zeigen, worum es alle Welt beneidet: seinen riesigen, gut funktionierenden, gut bezahlten Apparat.

Für Handke wurde vor allem das Argument der Innovation angeführt. Er leiste das, was Pina Bausch für das Ballett getan habe, die Annäherung an die Nachbarkunst, meinte Michael Skasa. Doch neu ist wortloses Theater nicht, auffällig an Handkes Stück ist nur sein betont literarischer Gestus. Seine Regieanweisungen sind kein Notbehelf, sondern Literatur der preziosen Sorte wie alle Handke-Texte. Hier versucht ein Literat, das nonverbale Theater für die Literatur zu retten.

Michael Merschmeier, der zuvor ästhetische Kriterien gefordert hatte und moralische nicht gelten ließ, konnte zum Schluß bei seinem Plädoyer für Handke nur noch ein pragmatisches anführen: Goetz habe den Preis schon einmal (1988 für „Krieg“) erhalten, Handke aber nicht, und dessen herausragende Rolle in der Theaterliteratur seit 1966 sei schließlich unbestritten. So verkäme der Mülheimer Preis dann auch zum Repräsentationsunternehmen.

Die Institution des Mülheimer Wettbewerbs ist eigentlich konservativ. Sie prämiert Stücke, deren Aufführungen gezeigt werden. Es wird also angenommen, daß Stücke zwar geschrieben werden, um aufgeführt zu werden, daß aber das Stück sowohl zeitlich als auch dem künstlerischen Rang nach gegenüber der Aufführung primär ist. Doch die in diesem Jahr eingeladenen Stücke zeigen, daß die Stück selbst mit Blick auf den Vorrang der Regie geschrieben werden. Die Rolle des Autors im Theaterbetrieb verändert sich. Ein traditionell gebautes Stück mit Figuren, Handlung und Dialog war nur noch Dea Lohers „Tätowierung“, ein klug ausbalanciertes Stückchen über das Modethema sexueller Kindesmißhandlung, das bezeichnenderweise Endprodukt eines Studiengangs „szenisches Schreiben“ ist. Die erfahreneren szenischen Schreiber wenden sich anderen Formen zu. Selbst Peter Turrini, sonst bekannt für handfest peinliche Gebrauchsstücke, weiß nicht mehr, woran er sich halten soll, und präsentiert mit „Alpenglühen“ nur eine witzige Etüde über Sein und Schein. Peter Handke versucht, die Rolle des Regisseurs im Text selbst zu übernehmen, während Rainald Goetz und noch radikaler Volker Braun mit „Iphigenie in Freiheit“ Texte schreiben, denen die Intention einer Aufführung kaum noch anzumerken ist.

Marlene Steeruwitz, die in Mülheim mit ihrer Wiener Kloakenrevue „New York, New York“ vertreten war und selbst auch als Regisseurin arbeitet, versucht in ihren Stücken, die Macht des Regisseurs durch detailgenaue Regieanweisungen einzuengen. Die in den Mülheimer Diskussionen arg unterschätzte Elfriede Jelinek dagegen paßt sich ans Regietheater an. Sie setzt Textblöcke, die von Sprechern mit Scheinindividualitäten vorgetragen werden (in „Totenauberg“ heißen die Textproduktionsautomaten „Der alte Mann“, Deckidentität für Martin Heidegger und „Die Frau“ alias Hannah Arendt) gegen mit ihnen unverbundene Regieanweisungen (die von Manfred Karges Inszenierung auch konsequent ignoriert wurden).

Es scheint, als unternähmen die Theaterautoren angesichts der Übermacht des Regisseurs den Versuch, wenigstens die Autonomie des Textes zu retten. Diener des Autors ist heute kein Regisseur mehr, nur Partner. Darauf stellen sich die Autoren ein. Die Hermetik der Texte von Jelinek, Goetz und Braun ist nur der zeitgemäße Versuch, ihre Selbständigkeit zu sichern in einem Theater, in dem der Stücktext nicht mehr dominiert, sondern ein Material unter anderen in der Hand des Regisseurs ist.