Die „Pendlergeneration“

Zwischen familiären Bindungen und der Sehnsucht nach Heimat / Für ältere MigrantInnen ist Rückkehr eines von vielen Luftschlössern  ■ Von P. Diaz und I. Mec

„Keiner hat damit rechnen können, daß so viele letztendlich in der Bundesrepublik bleiben würden.“ So beschreibt Juan Manuel Aguirre, Leiter der Sozialabteilung beim Deutschen Caritasverband in Freiburg im Breisgau, das Dilemma der Betreuungsverbände mit den MigrantInnen der ersten Generation. Die Altersprobleme dieser Menschen seien wenig bekannt, so Aguirre weiter, und deswegen sei die Altenhilfe der Betreuungsverbände wie Caritas, Arbeiterwohlfahrt oder Diakonisches Werk nicht auf diese Bevölkerungsgruppe vorbereitet. „Mit den Problemen der alten Migranten“, so der Spanier, „hat man nicht gerechnet.“

In der Tat sind Einrichtungen für alte AusländerInnen in Deutschland an den zehn Fingern abzuzählen. Nur wenige Städte sind sich der Problematik überhaupt bewußt. In Frankfurt am Main gibt es neben einem türkischen Altenclub noch eine städtische Einrichtung, die sich um diesen Personenkreis kümmert (siehe taz vom 4.5.1993). Das war's dann aber auch. In früheren Jahren und auch noch heute bleibt nur die Möglichkeit, auf die vorhandenen Migrantenvereine zurückzugreifen, dort einen Tee oder Kaffee zu trinken oder Domino zu spielen; Bekannte zu treffen oder nur ein Schwätzchen zu halten. Doch dieser Rückgriff kann nicht lange andauern. Denn die Zahl der älteren Ausländer wird stetig zunehmen. Eine Studie von Prof. Hermann Korte im Auftrag der Ausländerbeauftragten von Niedersachsen im Jahre 1989 sagt für das Jahr 2000 etwa 400.000 AusländerInnen voraus, die 65 Jahre und älter sein werden. Da die erste Einwanderergeneration jedoch in Berufen tätig war und ist, die sich durch hohen körperlichen Einsatz kennzeichnen, dürfte die Anzahl der zu betreuenden „Alten“ noch erheblich höher liegen. Außerdem dürften die Probleme dieser Menschen, wie geringe Deutschkenntnisse, Depressionen und Isolation kaum durch die hiesigen Heimatvereine aufgefangen werden können. Da ist schon gezielte psychologische Hilfe gefordert, so wie sie in der Frankfurter Beratungsstelle für alte MigrantInnen angeboten wird.

Allerdings ist der Alterungsprozeß in Deutschland kein „ausländerspezifisches“, sondern ein allgemeines gesellschaftliches Problem, daß in nächster Zukunft auf diese Republik zukommen wird. Im Jahre 2010, in 17 Jahren schon, wird jede/r vierte EinwohnerIn in Deutschland 60 Jahre oder älter sein, so die „Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft“ (DGBW). Nicht umsonst ist dieses Jahr von der EG zum „Jahr der älteren Mitbürger“ auserkoren worden. Man will auf ein Phänomen aufmerksam machen, welches unweigerlich auf Europa zukommt. Doch während sich der deutsche Rentner ein sonniges Plätzchen an den Stränden der Mittelmeerländer als Refugium kaufen kann (schon jetzt leben in Spanien mehr deutsche Rentner als überhaupt Spanier in der Bundesrepublik), bleibt die Rückkehr in das Ursprungsland für viele ältere AusländerInnen auch nur eines von vielen Luftschlössern der Migration. Sei es, weil die Kinder in Deutschland bleiben wollen und sie sich von ihrer Familie nicht trennen können, sei es, weil die niedrige Rente einen ruhigen Lebensabend im (ehemaligen) Heimatland unmöglich macht. Wieder andere kennen einfach niemanden mehr und haben über die Jahre den Bezug zur Heimat verloren. „Selbst in Fällen, wo unmittelbare Verwandte da sind“, führt Aguirre vom Caritasverband aus, „heißt das noch lange nicht, daß sie den Vater, die Mutter oder den Onkel bei sich aufnehmen. Häufig sind die Kinder bei den Großeltern in der Heimat aufgewachsen. Die Eltern haben sie jeweils nur vier bis sechs Wochen im Jahr gesehen. Da gibt es keine Familienbande, die es wiederherzustellen gilt.“ Der industrielle Prozeß hat auch in diesen Ländern dazu beigetragen, daß traditionelle Auffangsformen verschwinden. Das ehedem vorhandene Fangnetz „Großfamilie“ gibt es nicht mehr oder ist kaum noch existent. In den modernen Wohnkomplexen der Vorstädte von Oporto, Madrid oder Thesaloniki sind die Zwei- bis Dreizimmerwohnungen nicht auf Sentimentalität mit dem „dritten Lebensalter“ geeicht. Die städtische Kleinfamilie in Portugal, Griechenland oder Italien weiß auch nichts besseres mit dem alten Großvater anzufangen, als ihn in ein Heim zu stecken. „Doch dafür reicht das angesparte Geld neben der Rente oft nicht aus“, berichtet Aguirre. „In Spanien sind die privaten Altenheime viel zu teuer und die staatlichen hoffnungslos überfüllt.“

Für die MigrantInnen aus der Türkei sehen die Verhältnisse dagegen etwas anders aus. Viele von ihnen haben sich mit der Absicht, irgendwann in die Heimat zurückzukehren, noch vor dem Ruhestand ein Haus in der Türkei gebaut. Auch die Rente und das Angesparte könnten eigentlich für den Aufenthalt in der Türkei ausreichen. Denn noch sind die Lebenshaltungskosten dort nicht so hoch wie in Deutschland. Familiäre Bindungen hier und die meist mangelhafte medizinische Versorgung in den strukturschwachen Herkunftsorten machen es für viele türkische Rentner aber schwer, für immer in die lang ersehnte Heimat zurückzukehren. Denn wenn sie sich länger als sechs Monate im Ausland aufhalten, verlieren sie ihre Aufenthaltserlaubnis für Deutschland. Die Option, irgendwann wieder nach Deutschland zu gehen oder aber auch die gewohnte Versorgung der deutschen Krankenhäuser oder andere Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, will keiner aus der Hand geben. Getrieben von dieser Zwiespältigkeit, hat sich unter den alten MigrantInnen aus der Türkei eine „Pendlergeneration“ entwickelt, die jahrelang zwischen der alten Heimat und Deutschland hin- und herpendelt.

Weder die deutsche Regierung noch die Heimatländer haben hier rechtzeitig ein Wanderungskonzept erarbeitet, das sich der besonderen Situation der alten MigrantInnen annimmt. Die spanische Regierung beispielsweise beschränkt ihre Aktivitäten in diesem Bereich etwa darauf, daß sie den „Alten“ einmal im Jahr eine verbilligte 14tägige Flugreise nach Mallorca vermittelt. Ab und an taucht dann die Frau Ministerin auf und legt einen flotten Tango mit einem älteren Herrn aufs Parkett. Das freut die Gemüter, und auch die lokale Presse kann dann das „soziale Engagement“ der Regierung für die älteren Menschen verkünden. Die einzelnen Probleme der Leute bleiben denen ganz allein überlassen.

Die Schwierigkeiten der „alten“ Einwanderergeneration der sechziger Jahre sind erkannt, doch Lösungen dafür sind (noch) nicht vorhanden. Eine vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt in Auftrag gegebene Untersuchung fordert nun die Einrichtung von multikulturellen Seniorenzentren und die Bereitstellung von mehrsprachigen Beratungsangeboten. In den Beratungsverbänden selbst will man wohl nicht unbedingt eine spezifische „Ausländeraltenbetreuung“ schaffen. Sicherlich auch vor dem Hintergrund, daß dies ohnehin zusätzliches Geld erfordern würde, was auf absehbare Zeit nicht vorhanden sein dürfte. Daher spricht Aguirre vom Caritasverband in Freiburg von einem anderen Modell. Der Leiter der Caritasberatungsstellen bringt das auf die Formel: „Wir wollen, daß die Altenhilfe sich für die ausländischen Alten öffnet.“ Doch das ist leichter gesagt als getan.