■ Junge Deutsch-Türken wehren sich schon lange
: Die Angst vorm Spartakusaufstand

Kaum haben junge Deutsch- Türken ein paar Fensterscheiben eingeworfen und sich einige Scharmützel mit der Polizei geliefert, fährt Helmut Kohl und dem nordrhein-westfälischen Innenminister Schnoor die Angst in die Knochen. Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung für die aufflackernden Unruhen und der berechtigten Wut unmündig gehaltener „Ausländer“ peinigt sie das Los-Angeles-Syndrom, und sie drohen: „Wir werden die Gewalttäter und Rädelsführer konsequent abschieben.“ Daß sie sich damit in der Logik der Brandstifter bewegen, fällt ihnen nicht einmal auf. Die lautet: „Ausländer gehören nicht hierher. Wenn sie stören: Kick them out!“

Warum diese Aufregung? Hat die Republik nicht hinlänglich bewiesen, mit welch stoischer Ruhe sie rassistische Gewalt und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen hinzunehmen bereit ist, wenn es nur „die anderen“ trifft? Bei Kohl, Schnoor & Co regiert die Angst der Feudalherren vor dem Spartakusaufstand. Und Springers B.Z. beschwört pathologisch- abendländische Ängste, wenn sie fragt: „Kommt der Türken-Krieg?“ Bundesweit geilen sich Nachrichtenhändler an der angeblichen Aufrüstung türkischer Familien auf, pushen einfachste menschliche und soziale Bewegungsabläufe zu einem Feldzug hoch.

Mit der Realität hat das alles wenig zu tun. Die Einwanderer aus der Türkei sind in ihrer überwältigenden Mehrheit Bürgerrechtler, die seit mehr als zwanzig Jahren beharrlich, mit viel Energie, aber auch Frustrationstoleranz für ihre rechtliche Gleichstellung in diesem hartherzigen, beschränkt demokratiefähigen Land, das von politikunfähigen Technokraten regiert wird, kämpfen.

Auch wenn es nun kracht, gilt es, die Beiträge der Einwanderer zur Demokratisierung der politischen Landschaft festzuhalten und nicht die modifizierte, zeitgemäße Fassung der Legende von den „kriegerischen Osmanen“ zu kolportieren. In ihren Organisationen wurden in der Vergangenheit Vorschläge für die politische Ausgestaltung des Einwanderungslandes Deutschland ausgearbeitet – bislang vergebliche Liebesmüh.

Wenn etwas verwundern sollte, dann nicht, daß türkische Einwanderer nach Solingen sich zaghaft an radikaldemokratischen Formen des bürgerlichen Ungehorsams versuchen, sondern die lange Zeitdauer, die seit Mitte der siebziger Jahre verging, als Soziologen Unruhen prophezeiten, falls die Einwanderer dauerhaft von der vollen Teilnahme an der bürgerlichen Demokratie ausgeschlossen blieben. „Ausländer in Deutschland – wehrt Euch endlich!“ Ralph Giordanos Aufruf (siehe taz vom 1.6. 1993) zur Bildung von Selbstschutzgruppen hinterläßt den schalen Beigeschmack des Oberlehrerhaften. Denn türkische Einwanderer haben seit der „geistig-moralischen Wende“ von 1982 begriffen, daß sie sich nicht allein auf den Schutz durch staatliche Institutionen verlassen können.

Bereits vor Jahren verortete sich Mehmed (20, deutscher Staatsbürger), Mitglied der Jugendgang „Alis“, illusionslos in der hiesigen Gesellschaft: „Wir Jugendlichen, die in so einem Land wie der Bundesrepublik leben, merken, daß wir selber keine Regierung haben und uns mit diesem Staat nicht identifizieren können. Ich kann niemals eine Regierung akzeptieren, die generell gegen mich ist. Dann hole ich mir halt meine eigenen Leute und versuche, meine eigenen Regeln, unsere eigenen Gesetze zu machen.“ Seit über zehn Jahren schließen sich in den klassischen Arbeitervierteln bundesdeutscher Einwandererstädte vor allem türkische Jugendliche und Jungerwachsene zu Selbstschutzgruppen zusammen. Schon 1983 vereinigten sich in Hamburg rivalisierende Jugendgangs zur „United Gang“, um sich gegen ausländerfeindliche Übergriffe zur Wehr zu setzen.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit haben diese Gruppen das Erstarken der Boneheads (rassistischer Flügel der Skinheadbewegung und die Straßenkampfversion Zimmermannscher „Ausländerpolitik“) in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verhindert. Mit entschlossener Militanz hielten sie den Borsigplatz in Dortmund, Berlin-Wedding oder das Frankfurter Gallusviertel, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, „skinhead- und nazifrei“. Ohne feste Organisationsstruktur, ohne politisches Sprachrohr, nur lose miteinander verbunden, verhinderte die Wachsamkeit dieser Gruppen den Durchmarsch militanter rechter Szenen. In Einwandererstädten können diese „autonomen“, überparteilichen Selbstschutzgruppen innerhalb kürzester Zeit mühelos 500, 1.000 Streetfighter mobilisieren. Erste Demonstrationen ihrer Flexibilität und ihrer Bereitschaft zur „direkten Aktion“ demonstrierten sie an symbolträchtigen Tagen wie dem 20. April 1989 (100. Geburtstag Adolf Hitlers), dem 3. Oktober 1990 (Tag der Wiedervereinigung) oder dem 1. Mai.

Aber alle, die in der „Wehrhaftigkeit“ der Kinder der ImmigrantInnen ein wie Phönix aus der Asche sich erhebendes neues revolutionäres Subjekt vermuten, sie auf die Streetfighterrolle reduzieren wollen, seien vor einer Idealisierung gewarnt. Nicht nur, weil splitternde Knochen alles andere als heroisch sind, sondern weil die dritte Einwanderergeneration in der Zwischenzeit vielfältige, kreative Formen der Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft entwickelt hat, die allerdings nur (auch von taz-LeserInnen) rudimentär wahrgenommen werden.

Obgleich viele Jugendliche Gewalt bislang sehr verantwortungsvoll einsetzten, diese nur für eine kleine Minderheit von Rambos zum Selbstzweck wurde, haben sie bereits einen hohen Preis für ihre spontaneistischen Widerstandsformen bezahlt. In Berlin und anderswo wird das Potential künftiger Riots in „ordnungspolitischer Weitsicht“ seit Ende der achtziger Jahre systematisch und flächendeckend überwacht.

Ende 1990 war an der Spree bereits jeder zwanzigste männliche türkische, jugoslawische und arabische Jugendliche mit personenbezogenen Daten unter der Rubrik „Jugendgruppengewalt“ in Polizeicomputern abgespeichert. Diese Sammelleidenschaft der Polizei ist die materielle Basis, den unkonventionellen Kampf der Jugendlichen um Bürgerrechte und Gleichstellung niederzuschlagen. So kann nach Paragraph 45 Abs. 1 des Ausländergesetzes ausgewiesen werden, wer „die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht“. Bei „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ können nach Paragraph 48 des Ausländergesetzes auch Ausländer ausgewiesen werden, die „unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen und im Bundesgebiet geboren sind oder als Minderjährige in das Bundesgebiet eingereist sind“.

Solidarität deutscher Demokraten besteht in der nächsten Zukunft darin, die Anwendung dieser Paragraphen zu verhindern. Denn es ist zu befürchten, daß die Bundesregierung den von ihr produzierten politischen Giftmüll durch Deportation renitenter „ausländischer Jugendlicher“ in ihnen unbekannte homelands elegant entsorgen will. Eberhard Seidel-Pielen

Gemeinsam mit Klaus Farin beschreibt der Autor in der 1991 im Rotbuch-Verlag erschienenen Reportage „Krieg in den Städten“ die Genese und Widersprüchlichkeit jugendlicher Selbsthilfegruppen.