Hilflose Trauer

■ Schweigeminuten, Arbeitsniederlegungen und Beileidsbekundungen im ganzen Land

Ganz Deutschland (taz/AFP/dpa) – Die Republik stand gestern im Zeichen der Trauer um die fünf Türkinnen, die in der Nacht zum Samstag in Solingen nazistischer Mordbrennerei zum Opfer gefallen waren. Mehrere tausend Menschen versammelten sich vor dem Solinger Rathaus zu einer Trauerfeier. Zuvor war am frühen Morgen die Familie der Opfer vor der Ruine ihrer einstigen Heimstatt zu einer Andacht zusammengekommen. Die politische Prominenz aus Deutschland und der Türkei traf sich zur zentralen Trauerfeier in der Kölner Moschee. Sogar Altbundespräsident Walter Scheel lauschte im Innenhof der Ditib-Moschee der Rede Richard von Weizsäckers, in der sich der Bundespräsident für die doppelte Staatsbürgerschaft einsetzte.

Jenseits der beiden großen Zeremonien kamen allenthalben Ausländer und Deutsche zu Trauerkundgebungen zusammen. Vor dem Kreuzberger Rathaus in Berlin fanden sich 2.000 Menschen ein; in fast allen Berliner Bezirken wurden am Mittag kurzzeitig Straßen blockiert. Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bekundeten ihre Trauer ebenso wie Schülerinnen und Schüler. An den öffentlichen Gebäuden der Hauptstadt und auch in Brandenburg waren Flaggen auf Halbmast gesetzt. Die Belegschaft der taz blockierte für 15 Minuten die Kreuzung Kochstraße/Friedrichstraße im Berliner Zeitungsviertel, die Kolleginnen und Kollegen von AFP hielten ebenfalls für eine Viertelstunde mit der Arbeit inne. Selbst im KaDeWe wurde der Verkauf für ein paar Minuten eingestellt.

Auch in zahllosen Betrieben im ganzen Land wurde gestern mit Schweigeminuten der in Solingen ermordeten Türkinnen gedacht. Die IG Metall rief nicht nur zu solchen Aktionen auf, ihr zweiter Vorsitzender Klaus Zwickel erklärte darüber hinaus: „Wir fordern eine republikanisch-demokratisches Staatsbürgerrecht, das sich endgültig vom Mythos des Blutes löst.“

Die Ausländerbeautragte Cornelia Schmalz-Jacobsen und der nordrheinwestfälische Innenminister Herbert Schnoor bekräftigten ebenfalls die Forderung nach der doppelten Staatsbürgerschaft und dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer. Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) versucht offenbar, angesichts des Drucks, der in dieser Frage auf der Bundesregierung lastet, Zeit zu gewinnen. Eine solche Entscheidung „dürfe nicht übers Knie gebrochen werden“.

Bundeskanzler Helmut Kohl, der für sein Fernbleiben von den Trauerfeierlichkeiten vielfach kritisiert wurde, ließ gestern verkünden, daß er eine Art Runden Tisch zum Thema Ausländerfeindlichkeit einberufen wolle. Zu der morgigen Beerdigung in der Türkei wird er ebenfalls nicht reisen. Seiten 2, 3 und 10