Saturierte Mattigkeit oder Ruhe vor dem Sturm?

■ Die Hamburger Theatersaison 92/93 geht in diesen Tagen zu Ende / Rückblick auf eine allgemein flaue Spielzeit / Heute Teil I: Die Staatstheater

geht in diesen Tagen zu Ende / Rückblick auf eine allgemein flaue Spielzeit / Heute Teil I: Die Staatstheater

Wie altersschwache, depressive Schäferhunde kauten die Hamburger Bühnen letzte Saison auf dem Pflasterstein des Theaters herum. Ohne Angriffslust, dafür beharrlich behandelten sie ihren Stoff mit den verbliebenen Resten von Spielleidenschaft und kreativem Witz, der sie in vergangenen Tagen zum Zerberus vor dem schlechten Geschmack hatte werden lassen. Trotz höchst unterschiedlicher persönlicher und struktureller Voraussetzung waren die verschiedenen Häuser zuletzt von einer saturierten Mattigkeit befallen, die sich in einem Hang zu Ästhetenscherzen ebenso manifestierte wie in der sauberen Trennlinie zwischen plakativ politischen Aussagestücken und bunt-souveräner Klassikerbehandlung. Gelungene Inszenierungen ließen sich an einer Hand abzählen, wobei zwei wirklich gute übrig blieben, ein Fenster auf apollinisches Neuland hin haben aber auch diese nicht geöffnet.

Am Übergang zu einer mit Spannung erwarteten neuen Saison – Frank Baumbauer beginnt seine Intendanz im Schauspielhaus (siehe auch Kultur), Jürgen Flimm steht in seiner 150 Jahre-Thalia-Jubiläums- Saison und Hans Man in't Veld begeht seine Abschiedsspielzeit auf Kampnagel – läßt ein Rückblick auf die vergangene Spielzeit somit leider nicht viel Luft für lobende Worte.

Das Deutsche Schauspielhaus

Gerd Schlesselmann war von Beginn seiner eineinhalbjährigen Intendanz an um diese Aufgabe nicht zu beneiden. Als Lückenbüßer zwischen einem gescheiterten (Bogdanov) und dem eigentlichen Intendanten (Baumbauer) war er nur bestellt, um im größten deutschen Sprechtheater den Horror vacui zu vertreiben. Entsprechend willkürlich mußte das Programm dann wohl auch aussehen, denn der kommerzielle Leistungsdruck war umgekehrt proportional zu der Bereitschaft von Schauspielern und Regisseuren an der Kirchenallee Projekte zu verwirklichen, die nicht mal eine volle Spielzeit laufen sollten. So entstand ein bunter Setzkasten zwischen multimedialem Tanztheater und Klamotte, zwischen Operette und Klassiker- Adaptionen, zwischen Grusel und Glorie. Dennoch besaß Schlesselmann das Gespür, das Vermögen oder das Glück, die zwei besten Produktionen an einem Staatsthea-

1ter dieser Spielzeit in seinem Haus gehabt zu haben: Peter Brooks Impressionen von Pelleas und Augusto Fernandes packende vierstündige Ibsen-Adaption Königsblut. Konnte man sich bei Brook des Erfolges relativ sicher sein, so war die bilderreiche, atmosphärisch dichte Verarbeitung von Ibsens Königsdrama Die Kronprätendenten in ihrer Vielgestaltigkeit ein Wagnis, das auch kläglich hätte scheitern können. Sicherlich trugen die beiden Protagonisten Josef Bierbichler und Dieter Mann zu dieser Saison-Krönung entscheidend bei, die leider vom Hamburger Publikum nicht entsprechend gewürdigt wurde. Wie alle anderen Inszenierungen der Bogdanov/Schlesselmann-Ära wird auch Königsblut in diesen Tagen das letzte mal gespielt.

Zwei weitere ambitionierte Projekte führten zwar letztendlich zu unbefriedigenden Resultaten, gehören aber doch um einiges über die Magerstufe gehoben, auf der sich die restlichen Inszenierungen aufhielten: Euripides Bakchen in der Regie des jungen Belgiers Ivo van Hove und Carolyn Carlsons Multi- Media-Tanztheater Commedia zu Dantes „Göttlicher Komödie“. Beide traten mit einem hohen Kunstanspruch an, was zumindest van Hoves Ausstatter und Lichtregisseur Jan Versweyveld auch umsetzte. Dennoch scheiterten beide: van Hove, weil er mit Ben Becker seine Hauptrolle mit einem Schauspieler besetzte, der dem Dionysos nur physisch Statur gab und weil er über die lange Distanz seinen Stoff nicht mehr im Griff behielt. Und Carolyn Carlson, weil sie unter einem Patchwork aus versteckten Bezügen, beliebigen Bildern, Text- Fragmenten und Wilson-Zitaten jede gestalterische Willenskraft vermissen ließ.

Ansonsten herrschte am Großen Haus mehr oder weniger gelungenes Gaudi-Theater: Zadeks Blauer Engel mit Ute Lemper, die Saisoneröffnung, läutete den Triefsinn ein, Ulrich Heisings Herve- Operette Kleiner Faust unterbot ihn noch, Michael Brauns Talk Radio mit Ingolf Lück war ein Fall für die Gong-Show und Feydeaus Floh im Ohr in der Regie von Peter Löscher gab dem Volk noch einmal den Wildgruber, den es so liebt, in einer besseren Rolle als im Blauen Engel, mehr nicht.

Arie Zingers verstolperte Shaw- Inszenierung Haus Herzenstod und der Fröhliche-Pensionäre-Klamauk Es wird Zeit in der Regie der Werktheater-Begründerin Shireen Stroo-

1ker waren jene Stücke, die nun wirklich überhaupt niemand mehr sehen mußte. Der Vollständigkeit halber sei auch noch Monika Steils unterhaltsame Inszenierung von Thomas Bernhard Die Macht der Gewohnheit erwähnt.

Im Malersaal verabschiedete sich die Choreografin Verena Weiss mit hübschen Tschechow-Stimmungen von ihrem kleinen Hamburger Anhang und schlug damit dort noch die größte Begeisterung.

Das Thalia Theater

Bei seiner abschließenden Pressekonferenz meinte Jürgen Flimm, die Thalia-Saison hätte im Zeichen von Lärm und Dreck gestanden. Gemeint war damit der Erweiterungsumbau des Hauses, keineswegs das Geschehen auf der Bühne. Dort wurde weder Staub aufgewirbelt noch Lärm geschlagen. Bezeichnend für die Saison in der Flimms Lear, Peymanns Alpenglühen und Wilsons Alice doch eigentlich für Furore hätten sorgen sollen, war, daß zum Abschluß der Spielzeit ein über die Stadtgrenzen hinaus unbekanntes Eigengewächs den nicht mehr erwarteten Höhepunkt einer flauen Saison ablieferte: Nicolai Sykoschs Kabale und Liebe hatte sicherlich auch keine Theaterrevolution zu bieten, aber seine stringente und unbelastete sanfte Modernisierung des Schillerschen Trauerspiels zeigte immerhin in spannender Weise, wie man altbekannte Klassiker wieder flott bekommt. Seine Chefs, die sich beide an Shakespeare versuchten, brachten es dagegen nur zur ausgeglühten Form. Flimms König Lear-Abdruck blieb schmerzlos und behäbig und Guy Joostens kaprizierte sich für seinen Othello auf Szeneneinfälle und Karikaturen und verkannte die Chance, den „Mohr von Venedig“ als geschichtliche Person in die politische Debatte um das Zusammenleben verschiedener Kulturen zu führen. Eine Debatte, in der das Theater am Alstertor sich ansonsten ja gerne als Opinion-Leader gibt.

So änderte man „aus aktuellem Anlaß“ zweimal den Spielplan um mit Robert Schneiders Monolog Dreck und Klaus Pohls Die schöne Fremde gegen das gesellschaftliche Phänomen des neu belebten alten Rassismus zu protestieren, veranstaltete die Anti-Rassisten-Gala We Will Never Forget und addierte noch ein umfangreiches Rahmenprogramm zu diesem Thema. Konnte man zu all diesen Veranstaltungen den kompakten guten Willen empfinden und begrüßen, so blieben die Ausführungen doch fast alle Präsentationen ohne intellektuelle

1Dimension. Diskussionen waren entweder nicht erwünscht, wie bei der monströsen Statement-Schlacht anläßlich des 30. Januars, oder nicht nötig, etwa bei Dreck, dessen edel-bürgerlicher Provokations- Monolog wie ein schnell durchschauter Zaubertrick verpuffte.

Bezeichnend, daß das deutliche Übergewicht zeitgenössischer Autoren (Dorfmann, Schmidt, Schneider, Pohl, Turrini, Schwab, Serreau) zu nur vier Klassikern keineswegs mehr den Eindruck vermittelte, man spüre den Puls der Zeit. Vielmehr scheint Wilsons Vokabular inzwischen ebenso in die Jahre zu kommen wie Turrinis Geifer. Peymanns ganze Kunst konnte aus Turrinis kruder Geschichte vom Alpenglühen zwar noch ein Theaterstück formen, dennoch hatte das Ganze etwas von einem schönen Gnadenakt.

Der schon als neuer Hausstar gefeierte Daniel Karasek erlebte mit seinem zweiten ernsten Stück, Ariel Dorfmanns Diktatur-Bewältigungs-Drama Der Tod und das Mädchen, seinen zweiten Dämpfer und muß nächste Saison wieder im TiK inszenieren. Aber auch Oberspielleiter Joosten fand in seiner zweiten Regie, Strindbergs Der Vater, keinen Ansatz, der mit einer Position des Inszenierenden zu den handelnden Menschen überzeugt hätte. Überhaupt hat man doch inzwischen öfters den Eindruck, daß die Regisseure des Hauses mit ihrem hervorragenden Ensemble nicht richtig was anzufangen wissen. Lediglich bei Werner Schwabs Fäkaliendrama ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM, das Dramaturgin Brigitte Landes für Ralf Siebelt zu Ende inszenieren mußte, schien die plastische Übertreibung der Schwabschen Welt perfekt mit dem Humor der Schauspieler zu kommunizieren. Da es in der Jubiläums- Saison außer einem Pohl-Stück im TiK wahrscheinlich überhaupt keine Zeitgenossen auf der Thalia-Bühne mehr zu sehen gibt, kann man nur hoffen, daß das dann größere Haus sich an Klassikern erneuern kann. Ein Nicolai Sykosch hat es vorgemacht.

Die Hamburg Oper

Die Halbzeit des Tandems Gerd Albrecht und Peter Ruzicka stand fast ganz im Zeichen des 19. Jahrhunderts. Johannes Schaafs mäßig berauschende Inszenierung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail und die Neueinstudierung von Richard Strauss' Rosenkavalier setzen lediglich den Rahmen für einen großen deutsch-italienischen Zweikampf. Neben Schumanns konzertanter Genoveva-Aufführung zur Er-

1öffnung der Spielzeit dominierte Wagner fast alleine das Programm. Zwei Premieren aus dem Ring-Zyklus von Günter Krämer und die Neueinstudierung ihrer beeindrukkenden 88er-Inszenierung Tristan und Isolde durch Ruth Berghaus bescherten Hamburg ein Wagner- Jahr.

John Dews Inszenierung von Verdis Aida, gedacht als politischer Kontrapunkt zu Krämers opulenten Märchen-Bildern, brachte dagegen nur einmal mehr zu Bewußtsein, daß der Standort Opernbühne zur Formulierung großspuriger politischer Aussagen nur Klischees bereit hält. Dews neonbunter Versuch, die politische Rahmenhandlung in den Vordergrund zu moderieren, veräußerte die Persönlichkeit der Figuren für marktschreierische Effekte und verarmte das Beziehungsgeflecht zu einem Brettspiel. Krämer dagegen, der sich einer Interpretation von Wagners politischen Mythen von vorneherein verschloß, gelang zumindest mit Siegfried eine überzeugende Verbildlichung wagnerschen Images. Horst Hiestermann und Heinz Kruse als Mime und Siegfried schufen die unerbitterliche Vision eines zeitlosen Gewalt-Mythos. Dagegen wirkte Die

1Walküre mehr wie ein Schmuckkästchen, denn wie ein Singspiel. Aufdringliche Ausstattung und steife Personenführung zerdehnten die Stunden ins ermüdende. Vermißt wurde dieses Jahr eine große zeitgenössische Oper.

Die Ballett-Premiere der Saison, Zwei mal Zwei, Choreografien von Lar Lubovitch und Mats Ek, sah das leere Pathos rückwärtsgewandten Ballett-Verständnisses von Lubovitch neben den phantasievoll verschrobenen Tanz-Gedichten von Ek. Anläßlich seiner bombastischen Selbst-Feierung wird Ballett-Chef außerplanmäßig nun doch noch eine eigene Choreografie in memoriam Leonard Bernstein erstellen. In memoriam Neumeiers zuletzt getanzter Todesmelancholien muß man Leo im Himmel anflehen, daß er seinem Kollegen auf Erden jegliche weinerliche Hommage versagt. Denn wenn wir in dieser Saison irgendetwas mit Sicherheit nicht auch noch auf der Bühne sehen wollen, dann ist es inszeniertes Selbstmitleid. Till Briegleb

Der zweite Teil wird sich mit Kampnagel, dem Jugendtheater sowie den wichtigsten Inszenierungen der Privatbühnen beschäftigen.