: Von der Qual im Oval
Nico Motchebon, der lockere Quereinsteiger, der nach einer mühseligen Karriere als Fünfkämpfer die 800-Meter-Elite das Staunen lehrte ■ Von Cornelia Heim
Berlin (taz) – Er ist der Yannick Noah der Leichtathletik. Nicht nur, weil er so aussieht. Der Sohn eines Arztes aus Kamerun und einer Berlinerin kam auf die Tartanbahn, sah und siegte. Er graste in der Halle alles ab, wovon Kollegen, die ihr ganzes Tun wissenschaftlich-akribisch-verbissen jahrelang auf den ach so erwünschten sportlichen Erfolg ausrichten, immer träumen – vom Deutschen Meistertitel bis zur Weltmeisterschafts-Bronze. Neun Rennen stecken erst in seinen Knochen – sieben hat er gewonnen. Gestatten: Nico Motchebon, ehemals Moderner Fünfkämpfer, dem erst die sechste Disziplin zu Ruhm und Ehre gereichte.
Er läuft die 800 Meter mit der Unbekümmertheit eines jungen Fohlens. Und die alten Zuchthengste geraten vor lauter Staunen völlig aus dem Tritt. Für diesen Erfolg des Rivalen der Rennbahn findet der 800-Meter-Bundestrainer nur eine Erklärung. Paul Schmidt: „Die Leistungen unserer Läufer entsprechen nicht ihrem Trainingszustand. Am Start sind sie plötzlich Angsthasen.“ Und hoppeln einem hinterher, der nichts übrig hat für Sensibelchen: „Die könnten sich zwei Tage vorher in die Hose machen, bloß wegen einer Mini-Delle auf der Bahn.“ Immer schön locker bleiben.
Wohl dem, der sich sagen kann: „Ich nehme jetzt mit, was kommt, bin aber nicht betrübt, wenn nichts kommt.“ Sonnyboy Motchebon hat die Lust am Laufen entdeckt, die unendliche Leichtigkeit des Seins im Stadionrund. „Man könnte mich nachts aus dem Bett holen, und ich würde die 800 Meter aus dem Stand herunterspulen.“ Zweimal 400 Meter sprinten, ein Kinderspiel? Mitnichten. Der Tübinger Trainingswissenschaftler Dr. Günter Frey spricht von der Qual im Oval: „Der 800-Meter- Lauf tut furchtbar weh, vor allem wenn die Oberschenkel anfangen abzufaulen.“
Motchebon, der sich nicht vorschreiben läßt, was er zu tun und zu lassen hat – Querdenker, Quereinsteiger. Aber wehe, wenn ihm einer in die Quere kommt: Dann kann es schon mal passieren, daß dieser parterre geht – wie der Brasilianer José Luiz Barbosa bei der Hallen-WM in Toronto. Sieben Jahre lang quälte sich ein einsamer Pentathlet, acht Stunden am Tag, 48 Stunden im Wettkampf. Er wurde 1991 Deutscher Meister, schrammte zweimal denkbar knapp an einer Einzelmedaille bei der WM vorbei. Keiner hat's gemerkt.
Zwei Jahre hat er in die Olympischen Spiele in Barcelona investiert. Sport, Sport und nochmal Sport, den ganzen lieben langen Tag lang. Sein Lohn: Motchebon ging nicht einmal in die Startlöcher. Warum? Bundestrainer Michael de Vries und Verbandspräsident Klaus Schormann taten sich schwer mit dem Mann, der immer nur das trainierte, was er wollte und nicht, was irgendein Computer an Trainingsplätzen ausspuckte. Trotzköpfchen Motchebon zahlte Lehrgeld. „Nur mit Leistung, aber ohne Fürsprecher kommt man nicht weit.“
Und dann ging alles ganz schnell: Verbittert sagte er dem Hochleistungssport Tschüß. Nur, sein Körper, Tag für Tag auf Sport geeicht, machte den Schnitt nicht mit. Der Mehrkämpfer kämpfte mit Herzschmerzen. Und entschied sich fürs Laufen als sechste Disziplin. Zum bloßen Abtrainieren, versteht sich. Es war ja auch so praktisch – der Wald vor der Haustür, das Mommsen-Stadion um die Ecke.
Binnen dreier Monate kam alles ganz anders. Auf einmal war Nico Motchebon populär. Obwohl er, ganz ohne Ambitionen, nur dreimal die Woche trainiert hat – ein bißchen Joggen im Wald, ohne Uhr, ganz wie Otto Freizeitsportlich, ein paar Tempoläufe auf der Bahn. Ein Spaziergang für einen Mehrkämpfer. Und dann dieser Erfolg. Eine Ohrfeige für die Konkurrenz?
Erklärungsversuche: „Bei uns muß man sich quälen“, sagt Peter Kroner, Sportwart im Verband der Modernen Fünfkämpfer. „In nicht einmal zwei Minuten ist über die 800 Meter alles vorbei“, sagt Nico Motchebon. Wie schön. Dabei soll es Athleten geben, die steif und fest behaupten, diese eindreiviertel Minuten Muskelübersäuerung seien eine Ewigkeit. Eines hat der Informatikstudent nach diesem Wechselbad der Gefühle flugs begriffen: Im Zeitalter der Mediakratie entscheidet die sportliche Telegenität über Moneten oder Mauerblümchendasein. Nicht etwa der Trainingsaufwand: Modern ist am Modernen Fünfkampf nur der Name – ansonsten ist er out. Und die Leichtathletik in. Trotz Doping-Krabben am laufenden Meter.
Früher nannten sie ihn „Biber“. Manche behaupten, wegen seiner Haartracht, andere, wegen der Kraft in seinen Beinen. Ein Biber hat Biß. Doch der Damm brach erst jetzt – als sein Ehrgeiz weg war. So richtig heimisch fühlt sich der Ex-Mehrkämpfer in seiner neuen Disziplin allerdings nicht. „Mir fehlt der Trainingsaufwand, um die Medaillen richtig einschätzen zu können. Bei den Deutschen Meisterschaften in Sindelfingen hätte ich nebenher noch quatschen können.“ Zum Beispiel über das Startgeld beim nächsten Rennen?
Motchebon lächelt in sich hinein: „Ich hätte nie gedacht, daß in der Leichtathletik soviel Geld drinliegt!“ Vorher lebte er wie ein waschechter Amateur. Von ein paar hundert Mark Sporthilfe. Jetzt stehen Sponsoren Schlange, ein Ausrüstervertrag mit „adidas“ ist abgeschlossen, maßgefertigte Laufschuhe liegen in der Sporttasche, T-Shirts und Sweatshirts in allen Farben im Schrank. Motchebon hat inzwischen einen Manager, der schaut, daß der „Biber“ mehr als nur Holzwolle zu nagen hat. Er sorgt für bequeme Flugreisen und einen Monatsverdienst, den der Student der Informatik gar nicht mehr beziffern möchte, „weil sonst ein falsches Bild entstehen könnte.“ Nur soviel: „Laufe ich noch sieben Jährchen in der nationalen Spitze mit, habe ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt.“
Ganz so cool, wie er sich manchmal geben möchte, ist der Shootingstar indes nicht. Seine Achillesferse: eine Sehnenscheidenentzündung an derselben. Verletzt hat er sich im Trainingslager auf Teneriffa. Das war vor sieben Wochen. Seitdem sagt ihm der Physiotherapeut, was für ihn gut ist. Schlecht ist, daß er seinen Saisonstart mangels Trainingskilometern verschieben mußte. Erstmals ist Motchebon im Rückstand: Er weiß nicht, ob er die Qualifikation für die WM schaffen wird.
Weltmeisterschaften in Stuttgart ohne Dieter Baumann, ohne Nico Motchebon? Für die Fan-Gemeinde, die dankbar jedes neue (saubere) Sternchen am Firmament beklatscht, ein Drama. Für den schnell zum „Wunderläufer“ Stilisierten indes nicht. Das eigentliche Ziel des Studenten ist nicht die WM, sondern die Universiade, die Studenten-WM, in Buffalo/ USA. Wegen des Fernwehs – und des außersportlichen Beiprogramms.
Denn Sport – außer am eigenen Körper – interessiert ihn herzlich wenig. Zum Glück hat ein Freund die Olympischen Spiele in Barcelona auf Videocassetten. Motchebon zog sich 70 Stunden davon rein, „um wenigstens in der Leichtathletik ein wenig mitreden zu können“. Jetzt ist er im Bilde.
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