Die lange Dauer des Nationalen

Der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte stellt zwei Tagungen zur Renaissance der Nationalismen und zur „Supranationalität“ in Europa vor – mit zwiespältigem Ergebnis  ■ Von Christian Semler

„Die Zukunft ist uns immer gewiß, während sich die Vergangenheit in steter Bewegung befindet“– diese von dem jugoslawischen Philosophen Svetozar Stojanović auf das ständige Umschreiben der Geschichte im Realsozialismus gemünzte Sentenz würde nicht übel auf die neueste zeitgeschichtliche Forschung zum Thema Nationalismus passen. Noch in den 80er Jahren diagnostizierten Historiker, Soziologen und Politologen im westlichen Europa einen tiefgehenden Wertewandel, der die Bedeutung nationaler Identifikation zugunsten regionaler oder lokaler „Patriotismen“ einerseits, supranationaler Orientierungen andererseits einschränke.

Für den Osten aber wurde angenommen, daß die realsozialistischen Gesellschaften, durch die Dampfwalze der forcierten Industrialisierung und Gleichmachung bereits in ihrem Nationalbewußtsein geschwächt, dem westlichen Trend mit einer gewissen Phasenverschiebung folgen würden. Seit dem Zerfall des „sozialistischen Lagers“ und dem Zusammenbruch der beiden großen supranationalen Staatsgebilde „im Osten“, der Sowjetunion und Jugoslawiens, hat der Forschungstrend vor allem in Sachen osteuropäischer Nationalismus eine jähe Kehrtwendung durchgemacht. Jetzt sind es die alten ethnischen und religiösen Konflikte, die, durch den realsozialistischen Zwangsstaat nur scheinbar zurückgedrängt, mit elementarer Gewalt aufbrechen und das Handeln der politischen Akteure bestimmen. Oft wird leichthändig mit Begriffen wie dem des Kollektivgedächtnisses hantiert, wird über die gesellschaftlichen Brüche dieses Jahrhunderts hinweg Kontinuität mehr behauptet als nachgewiesen. War die Systemanalyse vor 1989 der Universalschlüssel, so sind es jetzt die national-spezifischen Faktoren „langer Dauer“.

Es ist das Hauptverdienst des von Heinrich August Winckler und Hartmut Kaelble herausgegebenen Sammelbandes „Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität“, sich jeder westeuropa- zentrierten Hoffart gegenüber der neuen Völkerkatastrophe in Ost- und Südosteuropa enthalten zu haben. Die Beiträge, ursprünglich für zwei Symposien im Herbst und Frühjahr 1991 geschrieben und nur geringfügig aktualisiert, drücken sich weder darum herum, mit illusionären Prognosen und Fehlurteilen aufzuräumen (exemplarisch der Einleitungsbeitrag Wincklers), noch lassen sie es an politischen Positionsbestimmungen fehlen (der Beitrag Wolfgang Kaschubas ist geradezu ein geistesgeschichtlich kaschiertes Pamphlet gegen die Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus). Wer allerdings einen abgesicherten Bezugsrahmen zu finden hofft oder gar eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten theoretischen Ansätzen der Nationalismus-Forschung, sieht sich auf einige gelehrte Bemerkungen im Frankreich-Aufsatz Gilbert Zieburas eingeengt.

Der Kern des ersten, der Renaissance des Nationalismus gewidmeten Symposions besteht in den Untersuchungen Hans Mommsens, Günther Schödls und Dietrich Geyers. Behandelt wird die Entstehungsgeschichte des „nationalen Gedankens“ und der Nationalitätenkonflikte in Ost- und Südosteuropa, gefragt wird nach dem aktuellen Erklärungswert historischer Analysen. Hans Mommsen entwickelt in seinem an Personen wie Fakten überbordenden Beitrag zur Nationalitätenfrage in der Habsburger-Monarchie die These, daß „Nationalitätenkonflikte, einmal entfesselt, durch den Appell an ökonomische Interessen nicht zurückgestaut werden können“. Nicht ohne Sympathie rekonstruiert Mommsen die theoretischen Positionen des Austromarxismus, vor allem Karl Renners zur Reform des Habsburger Vielvölkerstaates. Er konstatiert aber, daß Renners System kollektiver Rechtsgarantien für alle Nationalitäten und sein komplizierter Vorschlag, nationale und föderale Institutionen gleichzeitig zu trennen und zu verflechten, ohne Chancen war. Heute hingegen, im Hinblick auf die Einigung Europas, lohne es sich, noch mal bei den K.u.k.-Sozialisten nachzuschlagen.

Günther Schödls Aufsatz über die „Dauer des Nationalen“ versucht, ausgehend von einer Deutung der Nation als Instrument der gesellschaftlichen Integration und Modernisierung, eine Entwicklungstypologie Ost- und Südosteuropas zu entwerfen. Sein theoretisch anspruchsvoller Ansatz, der sich auf die Arbeiten der ungarischen Wirtschaftshistoriker Berend und Ranki stützt, vermag vor allem in Ex-Jugoslawien eine überzeugende Erklärung für das Abweichen, für die Pathologie des nationalstaatlichen Wegs auf dem Balkan zu liefern.

Dietrich Geyers Essay über den Zerfall des Sowjetimperiums schließlich ist zwar weitgehend deskriptiv, behandelt aber implizit die spannende Frage, in welchem Verhältnis das „zaristische“ Erbe zu dem des Realsozialismus steht. Geyer stellt für die Zukunft der GUS aber auch der „rußländischen“ Föderation eine wenig beruhigende Prognose. Sollte an dem „Territorialprinzip“ (eine Nation, ein Staatsgebiet) festgehalten werden, gibt es keine Lösung, auch nicht die charismatischer Führung. „Denn auch Charisma verbraucht sich schnell, wenn Menschen keine Zukunft vor sich haben.“

Gemessen an den Ergebnissen des ersten Forums sind die des zweiten zur „Supranationalität“ ziemlich problematisch. Das hat im wesentlichen drei Gründe: Trotz kritischer Ansätze, vor allem des „Demokratiedefizits“ der EG- Entscheidungsorgane, durchzieht die Beiträge eine fatale affirmative Tendenz, die sich im Aufsatz von Roger Morgan zu einer ungehemmten Feier europäischer Verhandlungsdiplomatie steigert. Zum zweiten sind die Texte größtenteils in einer juristischen Hermetik abgefaßt, die den Blick auf die politischen Probleme eher verstellt. Da mit Recht vermutet wird, daß der Leser keinerlei Insider- Kenntnisse besitzt, wird seine Geduld durch die umständliche Darlegung von Phasen der Rechtsentwicklung, der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofes etc. einer harten Probe unterzogen. Zum dritten wird zwar, in der instruktiven Arbeit Maurizio Bachs, die EG als supranationale Technokratie samt einer spezifischen instrumentellen Rationalität analysiert. Es fehlt aber jede Darlegung darüber, wie das Verhältnis lokaler und regionaler, nationaler und supranationaler Machtausübung künftig so gestaltet werden kann, daß auch kritische Geister guten Gewissens für Maastricht stimmen können. Sollte es nach dem dänischen Referendum einen Schock gegeben haben, bei den Teilnehmern des Symposions zur „Supranationalität“ zumindest war davon nichts zu spüren.

„Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität. Europa nach 1945“. Hrsg. von Heinrich August Winkler und Hartmut Kaelble, Klett-Cotta, 357 Seiten, 98 DM