Gerechtigkeit statt Geld

Im Gegensatz zu anderen Ländern setzten in Frankreich HIV-infizierte BluterInnen einen Prozeß gegen die Verantwortlichen durch  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Michel Garretta ist kaum wiederzuerkennen. Nur der ausladende Schnäuzer erinnert an den stattlichen Mann, der stets mit Leibwächter in den Gerichtssaal kam. Heute begleiten ihn Polizisten in die Box des Verurteilten. Seit sechs Monaten sitzt der einst so mächtige und arrogante Leiter des nationalen Bluttransfusionszentrums „Centre national de transfusion sanguine“ (CNTS) eine vierjährige Gefängnisstrafe ab. Das Gericht hatte ihn für schuldig befunden, „persönlich vom höchst ansteckenden Charakter der vom CNTS verteilten Produkte gewußt zu haben“. Er und zwei Kollegen, die lediglich zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden, hätten durch „ihr Schweigen ein Ziel verfolgt: die Bluter zu täuschen, bis die Vorräte aufgebraucht seien.“ Die Konsequenz: 1.250 BluterInnen wurden in Frankreich bis Ende 85 mit dem Virus infiziert, über 190 sind bereits an der Krankheit gestorben.

Nun stehen Garretta sowie sein Forschungsleiter Jean-Pierre Allain, der frühere Chef der staatlichen Gesundheitsbehörde, Jaques Roux, und der Ex-Chef des Nationalen Gesundheitslabors, Robert Netter, also erneut vor Gericht. Roux und Allain, der zur Empörung der Opfer völlig unbehelligt in der britischen Eliteuniversität Cambridge doziert, haben Berufung eingelegt. Die Staatsanwaltschaft will das ganze Verfahren neu aufrollen. Während der erste Prozeß Schlagzeilen machte und in ganz Frankreich mit höchster Anteilnahme verfolgt wurde, interessieren sich jetzt nur noch Betroffene und Spezialisten für das Verfahren. Denn das eigentliche Ziel ist bereits verwirklicht: Die BluterInnen haben durchgesetzt, daß die Affäre nicht länger verheimlicht, sondern von der Justiz als Verbrechen anerkannt wurde. Daß ihnen das gelang, gleicht einem Wunder. Es ist vor allem einem Kläger zu verdanken: Jean Péron-Garvanoff hegte schon 1985 den Verdacht, durch die Nachlässigkeit des CNTS verseucht worden zu sein. Ein Radiobericht hatte ihn aufgeschreckt. Sein Versuch, Klage zu erheben, schlug mehrmals fehl. Das CNTS hatte einen hervorragenden Ruf und die seropositiven BluterInnen keine Beweise. Erst drei Jahre später gab man den ersten Klagen statt; im Herbst 1988 lief die Untersuchung langsam an, weitere Klagen folgten. Aus strategischen Gründen plädierte der Anwalt Péron-Garvanoffs nur auf „Täuschung über die Qualität einer Ware“, ein Delikt, das gewöhnlich Produkte wie Senf oder Joghourt betrifft, sowie auf „unterlassene Hilfe für gefährdete Personen“. Eine Klage wegen vorsätzlicher Tötung hätte den Prozeß in noch weitere Ferne gerückt, zudem wäre sein Ausgang völlig ungewiß gewesen. Doch auch bei der maßvollen Betrugsklage, auf die eine Höchststrafe von (nur) vier Jahren Haft steht, dauerte es Jahre, bis der erste Untersuchungsbericht der Justiz vorlag. Unterdessen hatte die „Französische Bluter-Vereinigung“ einen faulen Handel mit den Versicherungsgesellschaften geschlossen: JedeR HIV-infizierte BluterIn erhielt eine Entschädigung von mageren 30.000 Mark, sofern sie/er sich verpflichtete, auf gerichtliche Schritte zu verzichten. Viele BluterInnen unterschrieben, einige zogen ihre Klagen zurück. Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren aussetzen. Ohne die Enthüllungen im Evènement du jeudi wäre es wohl nie zum Prozeß gekommen. Eine Journalistin des Wochenmagazins hatte ein Dokument ausgegraben, das bewies, daß die Verantwortlichen des CNTS schon im Mai 1985 wußten, daß alle Plasmakonserven verseucht waren. Im Oktober 1991 wurden Garretta, Allain, Roux und Netter angeklagt, der Prozeß im Juli 1992 eröffnet. Das ist den übrigen Opfern von Bluttransfusionen nicht gelungen, obwohl ihre Zahl auf 4.000 bis 6.000 Menschen geschätzt wird. Die Schuld von drei Gesundheitsfunktionären steht in Frankreich nun also fest. Darüber hinaus halten die Betroffenen auch die verschreibenden ÄrztInnen und wissenschaftlichen BeraterInnen der zuständigen Minister für verantwortlich; es ist nicht ausgeschlossen, daß weitere Prozesse folgen.

Obwohl auch in anderen Ländern zahlreiche BluterInnen infiziert wurden (1.150 in Spanien, 1.300 bis 1.800 in der BRD, bis zu 2.000 in Japan), ist es den Hämophilen nirgends sonst gelungen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß ihre Infizierung ein Skandal ist, für den es Schuldige gibt. Auch in Spanien und Deutschland wurde das Schweigen der BluterInnen mit Entschädigungen erkauft. Dabei nutzte es den Versicherungen, daß viele HIV-Infizierte die Krankheit lieber verheimlichten, als damit an die Öffentlichkeit zu gehen.