Die einzige Zeugin

Noch hat die Hauptbelastungszeugin im Prozeß gegen die mutmaßlichen Mörder von Mölln nicht ausgesagt / Doch bereits jetzt wird deutlich, wie schwierig die Beweislage geworden ist  ■ Aus Schleswig Bascha Mika

Es ist Nacht. Sie wacht auf, kriecht aus dem Bett, tappt zur Toilette. Am Fenster hält sie kurz an. Was ist denn da los gegenüber? Sie bleibt stehen, guckt neugierig raus. Ein weißes Auto steht links vor dem Hause der Arslans. Der Wagen hat ein schräges Heck, das Nummernschild ist nicht beleuchtet. Hinten drin steht ein Karton oder Kasten. Vorne sitzen zwei Männer. Einer ist groß, einer klein. Beide sind dunkel gekleidet und tragen komische Mützen. Der größere auf dem Beifahrersitz steigt aus. Er hat was aus Glas in der Hand, geht zur Haustür, drückt sie auf. Dann reißt er ein Streichholz an. Die Fußmatte brennt! Der Mann rennt zum Auto zurück.

Dann steigt der andere aus, läuft ums Gebäude herum in die schmale Gasse zwischen den Häusern. Sie flitzt zum Wohnzimmerfenster, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der Mann wirft etwas gegen das Haus der Arslans. Dann rennt er zum Auto zurück. Das rast mit quietschenden Reifen davon. Kurze Zeit später ist die Möllner Mühlenstraße voller Rauch, voller Flammen, voller Schreie.

Am nächsten Morgen geht sie zur Schule. Sie sucht ihre Freundin Yeliz, aber die kommt nicht. Yeliz ist tot. Alle reden sie von dem Anschlag. Da sagt sie leise: Aber ich weiß doch, wie es war.

In der Nacht vom 23. November 1992 starben in Mölln Bahide Arslan (51), Yeliz Arslan (10), Ayse Yilmaz (14). Die Türkinnen erstickten und verkohlten in dem weißverputzten Haus in der Mühlenstraße 9. Das schrecklichste Verbrechen, das in der Bundesrepublik aus Fremdenhaß geschah – bis Solingen kam, bis weitere Menschen verbrannten. Über zwanzig Jahre lebte die Familie Arslan in Deutschland. Dann kamen die Attentäter.

Sie, die nachts am Fenster stand, ist die einzige, die das Verbrechen beobachtet hat. Die einzige Zeugin. Doch sie ist ein Kind. Neun Jahre alt.

Ein paar Tage später wird die Kleine von der Polizei vernommen. Sie erzählt, was sie alles gesehen haben will, berichtet eine Menge Einzelheiten. Eine Ärztin für Kinderpsychiatrie wird zu Rate gezogen. Kann man diesem Kind glauben? Ja, entscheidet die Gutachterin, im Kern sind die Aussagen glaubhaft. Die beiden Männer, das Auto, das Feuer auf der Fußmatte – das kann sich ein Kind kaum ausgedacht haben.

Aber die Details? Kann das Mädchen bestimmte Kleinigkeiten überhaupt gesehen und sich dann noch gemerkt haben? Die Streichhölzer, das Glas mit der brennbaren Flüssigkeit, den Kasten auf dem Rücksitz, in dem die Molotowcocktails transportiert worden sein sollen? Daran gibt es berechtigte Zweifel. Was hat die Kleine von anderen gehört, aufgeschnappt, in ihrer Phantasie verwoben mit dem, was sie nachts beobachtet hat?

Nach dem Attentat hatte die Bundesanwaltschaft bienenfleißig ermittelt. Allein mit Material über die rechtsradikale Szene um Mölln füllte sie 77 Aktenordner. In kürzester Zeit präsentierte sie die mutmaßlichen Täter. Es gebe – so machten die Ermittler glauben – eine unmittelbare Tatzeugin, deren Aussage eindeutige Schuldbeweise liefern würde. Kein Wort davon, daß diese Zeugin ein Kind ist. Wie jetzt in Solingen stand die Bundesanwaltschaft auch in Mölln unter extremem Fahndungsdruck. Schließlich hatte sie plötzlich erkannt – nachdem sie sich weder um Hoyerswerda, noch Hünxe noch Rostock geschert hatte –, daß der Anschlag in Mölln auch der Bundesrepublik Deutschland gegolten hatte. Vor allem ihrem Ruf im Ausland.

Jetzt soll das Kind vor dem II.Strafsenat des Oberlandesgerichts in Schleswig aussagen. Als Zeugin der Anklage. Ihr Auftritt – geplant für einen der nächsten Prozeßtage– ist einer der wichtigsten im Verfahren gegen die mutmaßlichen Mörder von Mölln. Doch die Öffentlichkeit wird daran nicht teilnehmen können. Das Mädchen muß geschützt werden. Es ist schon mehrfach bedroht worden.

Aussagen soll das Kind gegen Michael Peters und Lars Christiansen. Ihnen wird dreifacher Mord und Brandstiftung vorgeworfen. Schon wenige Tage nach ihrer Verhaftung schien es im ganzen Land klar: Das sind die Mörder. Jetzt brauchen sie nur noch verurteilt zu werden. Doch die Angeklagten spielen nicht mit. Sie bestreiten die Tat. Christiansen legte in Untersuchungshaft ein Geständnis ab, zog es aber kurze Zeit später wieder zurück. Peters gab das Verbrechen in verschiedenen Vernehmungen zu und beschuldigte Christiansen der Mittäterschaft. Doch vor Gericht wollte er von seinem Bekenntnis nichts mehr wissen.

„Ich hab das gesagt, weil mir sowieso niemand glauben wollte“, begründet der 25jährige Peters vor Gericht, warum er gestanden hatte. „Man hat versucht, mich bei den Vernehmungen kaputtzukriegen“, behauptet der 19jährige Christiansen. Bei den polizeilichen Vernehmungen habe es Druck, Suggestion und Einflüsterung gegeben. Seine Haftsituation beschreibt Christiansen als paranoides Schauerstück. „Hab' gedacht, es wäre ein Komplott von staatlicher Seite“; „gleich kommen sie, um mich umzubringen, weil man einen Täter braucht“. Immer wieder: „Ich war innerlich total zerrissen“ und „ich hab' gedacht, ich muß es doch sagen, weil mir sowieso niemand mehr glaubt“.

Seine Anwälte Rolf Bossi und Wolfgang Ohnesorge reden von Haftpsychose. Mit verschiedenen Strategien versuchten sie, das absolute Verwertungsverbot der Vernehmungsprotokolle zu erreichen und, über den vom Gericht bestellten Sachverständigen hinaus, einen Jugendpsychiater zu bestellen. Doch Anwalt Bossi, für diese Taktiken bekannt, hat vor den fünf Richtern des Oberlandesgerichts kein Glück. So sehr sie ihm, der in seiner schwarzen Robe neben dem Angeklagten hockt wie ein Hexerich, seine verbalen Pöbeleien nachsehen, so hart sind sie in der Sache: Alle Anträge wurden abgelehnt.

Tatsache ist, daß sich die Beamten bei der Festnahme von Lars Christiansen einen Dreck um Unschuldsvermutung und Dienstvorschrift gekümmert haben: Sie machten ihm durch Augenverbinden angst, erzählten ihm nicht, warum und wohin sie ihn mitnahmen. Weder er noch Michael Peters bekamen einen Anwalt.

Peters und Christiansen – so sehen es die Ankläger – hätten bei ihren Vernehmungen Details erzählt, die nur die Täter hätten wissen können. Diese würden sich mit den Beobachtungen des kleinen Mädchens decken. Als Christiansen vernommen wurde, lagen die Aussagen des Nachbarkindes bereits vor. „Die Beamten haben mir vorgehalten“, erzählt Christiansen dem Gericht, „daß der Größere auf dem Beifahrersitz gesessen haben soll. Weil ich größer bin als Pitti, habe ich eben gesagt, daß Pitti gefahren ist.“

Alles, was er den Vernehmungsbeamten erzählt habe, alle Geständnisse – er hat immer wieder Bekenntnisse abgelegt, um sie sofort zu widerrufen und dann neue zu machen – seien frei erfunden. Michael Peters habe er, nachdem er verschiedentlich auch andere Leute genannt hatte, als Komplizen angegeben, „weil die Polizei die ganze Zeit auf ihn hinauswollte“.

Auch daß der Täter in das Haus in der Mühlenstraße hineingegangen sei, habe man ihm suggeriert. Vieles andere habe er aus den Medien gewußt und außerdem versucht, seine Geschichte möglichst glaubhaft auszuschmücken. Selbst seinen Haschischkonsum am selben Abend: „Ich konnte ja nicht sagen, wir fahren nüchtern los. Das hätte mir doch sowieso niemand geglaubt.“ Aber: „So eine Tat würd ich nie begehen. Da könnte ich fünf Promille haben.“

Vergleicht man Christiansens Aussage mit dem, was das Kind der Polizei erzählt hat, ist bisher nur erwiesen: Christiansen besitzt ein Auto mit Schrägheck; seine Kennzifferbeleuchtung hat einen Wackelkontakt; er gibt zu, der Polizei erzählt zu haben, daß er in der Mühlenstraße die Mollis mit Streichhölzern angezündet habe, die vorausgegangenen Brandsätze in der Ratzeburger Straße aber mit einem blauen Einwegfeuerzeug.

Jedoch ist sein Polo nicht weiß, sondern beige. Auch ein weiteres Indiz gegen ihn – eine Saftpackung in seiner Wohnung, auf die der Name „Faruk Arslan“ geschrieben war – hält inzwischen nicht mehr das, was es anfangs versprach. Inzwischen ist erwiesen, daß ein Freund Christiansens die Packung bekritzelt hat – und zwar erst einige Tage nach dem Anschlag.

Da sitzen die beiden nun vor ihren Richtern, waren mal Freunde oder sind es vielleicht immer noch und könnten doch unterschiedlicher kaum sein. Peters mit seiner Alkoholkarriere, ohne richtiges Elternhaus, der sich nur mühsam durch die Sonderschule gekämpft hat, auf eine stumpfe Art manchmal ganz schlau ist, aber mit Worten, die er sagt oder hört, auf Kriegsfuß steht. Er ist ein Rechtsradikaler wie aus dem Bilderbuch der Linken: aufgefallen durch dumpfe Parolen und hinterhältige Angriffe auf Flüchtlingsheime in Pritzier, Gudow und Kollow. Verteidigt wird er von Manfred Goerke, einem stockkonservativen schleswig-holsteinischen Honoratiorenanwalt, der immer so tut, als würde er sich an seinem Mandanten die Finger dreckig machen.

Dann Lars Christiansen, jünger und wacher, der auf Fangfragen geschickt reagiert und sich als empfindsamer junger Mann präsentiert. Klar war er in der rechten Szene wie alle seine Freunde, aber angeblich trug er sich schon lange mit Ausstiegsgedanken. „Die ganze rechte Meinung hab' ich für mich selbst nicht für gut gehalten.“ Dazu paßt allerdings nicht, daß er sich noch einen Monat vor dem Anschlag brutal-rassistische Liedtexte von Skinbands besorgte, um sie mit den Kumpanen zu grölen.

Klar und selbstbewußt tritt Christiansen vor Gericht auf. Solange er nicht unter Druck gerät. Dann fängt er auch sprachlich an zu schwimmen, sein sonst kräftiger Tonfall wird latent aggressiv. Hat er nur deshalb die Tat früher gestanden, weil er sich zwischendurch, fast schizoid, eingebildet hat, tatsächlich der Mörder zu sein? So stellt er es heute dar. Oder wirkt er nur deshalb oft überzeugend bei seinen Ausführungen, weil er sein Verbrechen total verdrängen muß, um seine Schuld zu ertragen?

Als der Prozeß begann, schien alles einfach und klar. Da waren die mutmaßlichen Täter, erdrückende Indizien, eine Hauptbelastungszeugin, ein Geständnis und ein storniertes Bekenntnis, das damit aber nicht wertlos war. Bis in die Details sah das Bild sauber zusammengepuzzelt aus. Doch nur beim groben Hinsehen. Bereits nach den ersten sechs Verhandlungstagen wird deutlich, daß es ohne Geständnis schwierig sein wird, den Beschuldigten die Tat einwandfrei nachzuweisen. Das von der Anwaltschaft so schön präsentierte Puzzle ist – zunächst wieder – in Einzelteile zerfallen.