■ Die Presse nach Solingen
: Inszenierung und Katzenjammer

Komplexe Probleme schreien nach einfachen Lösungen. Die Schemata funktionieren verläßlich. So werden die Verantwortlichkeiten nach den Morden von Solingen erwartungsgemäß mithilfe der bekannten Koordinaten beschrieben. Der, resp. die Täter sind demnach: Erstens asoziale Verrückte, die „es leider überall gibt“ (Helmut Kohl) — die konservative Variante. Zweitens die Exekutivarbeiter reaktionärer Politik — die linke Variante mit dem Slogan „Biedermänner und Brandstifer“. Drittens sind es zwar Einzeltäter, aber nicht aus dem Nichts, sondern aus „einem rechtsextremistisch erzeugten Klima“ kommend (Richard von Weizsäcker) — die liberale Variante.

Zu allen drei Erklärungsschemata gibt es naturgemäß die entsprechende Presse mit dem passenden Weltbild:

1) Probleme werden nicht politisch formuliert und gebildet, sondern vorgefunden, sagt die Rechte. Ein Ausländerproblem „gibt es“ eben. Die konservative Presse entspricht dieser bewußten Unschuld, indem sie, Schulter an Schulter mit Zimmermann, Rühe & Co., gegen die „Asylantenschwemme“ rhetorisch fleißig Dämme baut.

2) Die Linke behauptet im Gegenteil, die Beschreibung „des Ausländerproblems“ als dem Problem des neuen Deutschland lasse sich wiederum als Politik beschreiben: wer bezeichnet warum „die Ausländer“, resp. „die Asylbewerber“ als unser Problem, wieso ist es nicht die immense Arbeitslosigkeit, die nicht vollzogene ,Vereinigung‘ o.a.? Früher nannte man so etwas Ideologiekritik. Dieselbe ermächtigt nicht nur, sondern erzwingt geradezu, die Produzenten von Ideologie, also PolitikerInnen und Medien, verantwortlich zu machen.

3) Die liberalen Medien verhalten sich in bewährter Weise labil, das allerdings mit System: den „Asylkompromiß“ macht man noch mit, aber bei Solingen fragt man nach der Verantwortung. Formal heißt das: Strukturelle Entscheidungen gleichwelcher Größenordnung (und es gibt nichts ,Höheres‘ als eine Grundgesetzänderung) behandelt man als gleichsam metaphysisch auf uns gekommene Probleme, die realpolitisch gelöst werden müssen: Kloses, Engholms und Vogels Bauchschmerzen entsprechen genau den abmoderierenden Leitartikeln in der liberalen Presse. Einzeltaten von Einzeltätern hingegen (Solingen, aber auch Mölln) bleiben solche, werden aber mit schuldbewußter Unbestimmtheit in einem „Klima“ verortet, das dergleichen „begünstigt“ oder „ermöglicht“: Sozialdemokratie und Metaphysik in einer Mischung, die genaue Analysen nicht ausschließt, aber auch in jener weichgespülten Formulierung münden kann, in der alles irgendwie mit allem zusammenhängt, worin wir uns alle mit von Weizsäcker schnell einig sind.

Jetzt sind in diesem Gefüge die Koordinaten ein bißchen verrutscht. Die Süddeutsche Zeitung, sonst realpolitisch verläßlicher Bündnispartner beispielsweise des „Asylkompromisses“, spricht in einem Solingen-Kommentar von „Schreibtischtätern“ und „publizistischen Helfershelfern“ (nennt aber keine Namen). Die Zeit zitiert in ihrem Feuilleton erinnernd Volker Rühes Fragebogen zur Asylpolitik 1991 mit den Worten: „Es wurde ein toller Erfolg. Von Rostock bis Solingen.“ Gegen beide hingegen schäumt die FAZ in bewährter Weise, indem sie gegen „jenes ,Prinzip Verantwortung‘, nach dem für alle Übel der Welt sich Übeltäter und Abhilfe finden lassen“, die Komplexität der Probleme stellt ...

Auf die Komplexität der Probleme können wir uns alle, einschließlich von Weizsäcker, Fromme und Zimmermann, unproblematisch einigen (allein die Hinterbliebenen sind hier vielleicht anderer Ansicht). Gewiß sind die Wege vom Gedanken zum Wort und vom Wort zur Tat gewundener, als den meisten lieb ist. Die FAZ selber allerdings ist in ihren Leitartikeln wenig heikel, den Weg von der verantwortungslosen Politik auf die verantwortungsvolle Straße und wieder zurück zu empfehlen, und ihre Sprache ist hier kein Umweg, sondern nur Treibriemen. Wie hieß es in der FAZ am Tag vor Solingen, dem 28.5., Seite 1: „Insgesamt haben es die Bürger ... mit erstaunlichem Langmut ertragen, daß die Politiker über Jahre hin nicht in der Lage oder willens waren, angesichts einer mehr und mehr außer Kontrolle geratenden Zuwanderung zu handeln ... Sie verbitten sich mit Recht politische Belehrungen, und sie dürfen sagen: Jetzt ist es genug.“ Und wie schrieb gestern das Feuilleton zum Abschluß der Komplexitätserwägungen und der Lächerlichmachung des „,Prinzips Verantwortung‘“: „Jahrelang hat man in der Bundesrepublik die Risiken einer ethnisch und kulturell heterogenen Gesellschaft als Gesinnungsfragen, also praktisch als Sprachprobleme behandelt. Jetzt ist die symbolische Politik am Ende.“ Beides ist leider wahr. Die Bürger haben nicht nur gesagt ,Es ist genug‘, und sie haben der „symbolischen Politik“ ein Ende gemacht. Die FAZ war da nicht wenig hilfreich.

Die Frankfurter Rundschau erinnert an die Hetze von CDU/CSU im deutschen Herbst gegen die „Sympathisanten“ und schließt, „die damalige Infamie dürfte die Linke bis heute davon abgehalten haben, im Gegenzug die Debatte um die rechten Gesinnungsträger zu eröffnen“. Sie hat recht damit, entscheidend sei „nicht die Frage, wer die Rechte stützt, sondern was sie ermöglicht“. Ermöglicht hat die Rechte aber auch eine Presse, welche die Hypostasierung eines politischen Problems zu der Entscheidungsfrage mitstilisierte.

Medien machen Politik. Es ist eine Kette von kleinen Entscheidungen, von Reflexionen, von machtpolitischen Erwägungen in den Medien erforderlich, um ein Bild von Deutschland zu inszenieren, dem sich am Schluß niemand mehr – nicht mehr die PolitikerInnen, nicht mehr die JournalistInnen, die Bevölkerung erst recht nicht – entziehen kann. Nach Jahren entsprechender Politik und entsprechender Medienpolitik war eine Situation geschaffen, in der „das Ausländerproblem“ schnell und brachial entschieden werden mußte, weil sonst ,der Mob‘, ,die Straße‘ „sagen: Jetzt ist es genug.“ Aber die scheinbare Totalität des Problems, die hermetische Dichte der Inszenierung, die sogar die Regieassistenten überwältigt, ist niemals notwendig gewesen. Vielleicht führen die jetzige Aufregung, der spürbare Katzenjammer und die aktuellen Debatten zur Durchsetzung des „Prinzips Verantwortung“ in den Medien selbst. Elke Schmitter