„Wir hassen nur die Nazis“

In der Heimat der in Solingen ermordeten Frauen und Kinder ist man freundlich zum Heer der Besucher – und stellt unbequeme Fragen  ■ Aus Mercimek Dorothea Hahn

Der Weg, der für die in Solingen ermordeten Saime Genc, Hülya Genc, Hatice Genc, Gülüstan Öztürk und Gürsun Ince der letzte wurde, ist in aller Eile noch planiert worden. Am Vorabend der Beerdigung waren am Donnerstag Straßenfahrzeuge in Mercimek angerückt und hatten die großen Steine, die seit Menschengedenken auf der Dorfstraße lagen, beiseite geräumt.

Über die völlig neue Ebene wurden gestern abend die fünf Särge vom Dorfeingang bis zu dem Friedhof getragen. Vorbei an den Holz- und Lehmhäusern der Verwandten und Nachbarn der in Solingen ermordeten Frauen und Kinder. Vorbei an den für die Zeremonie ausgekehrten Ställen, den krähenden Hähnen und den Kindern, die in bunten Kleidchen auf dem Boden hocken und nicht verstehen, warum seit Tagen so viele fremde Stimmen um sie herum waren.

Stunden vor der Ankunft der Toten gibt der Vater von Gülüstan Öztürk, die in Solingen im Urlaub war, als sie im Hause Genc verbrannte, gestern morgen eine improvisierte Pressekonferenz unter dem Vordach seines Hauses. Journalisten aus Deutschland halten dem schmächtigen, kleinen Mann riesige Mikrofone vors Gesicht. Eine Traube von Männern steht um sie herum und lauscht Idris Öztürks Worten andächtig. „Wenn das das letzte Attentat gegen Türken in Deutschland war, weiß ich wofür ich meine Tochter geopfert habe“, sagt der Mann gefaßt. Kein Wort der Rache, keines des Hasses kommt über seine Lippen.

„Hozgeldin“ – Willkommen – grüßt ein alter Bauer in dem zentralanatolischen Dorf die Fremden, die an diesem Tag auf der Lehmgasse vor seinem Haus vorbeiströmen. „Hozgeldin“, sagt auch die Frau mit dem bunt umrandeten weißen Kopftuch, das hier alle tragen, und den Pluderhosen, die ein paar Schritt weiter auf der Holzbank vor ihrem Haus sitzt. Auf den Treppenstufen hinter ihr stehen säuberlich aufgereiht sieben Paar Schuhe und Gummischlappen der verschiedensten Größe. Alle Fremden, die wollen, dürfen das Innere ihres einfachen Bauernhauses besichtigen. Die Kinder der Familie beobachten sie dabei.

Nie zuvor galt Mercimek soviel Aufmerksamkeit wie in den vergangenen Tagen. Nicht nur die Straße zum Friedhof wurde planiert, das Dorf bekam auch einen Parkplatz für die zahlreichen Besucher. Und neben den angereisten JournalistInnen machten Vertreter sämtlicher türkischer Parteien den erstaunten Bauern ihre Aufwartung.

Tiefe Betroffenheit und die Trauer der Hinterbliebenen bestimmen das Bild. Alles was stört, wird von höherer Stelle ausgeklammert. Zwar waren am Donnerstag Transparente über dem Weg zum Friedhof aufgetaucht. „Ankara schläft und die Nazis legen Feuer“, stand beispielsweise auf einem. Und „Allah schickt alle Mörder ins Verderben“ auf einem anderen. Doch gestern morgen waren die unerwünschten Mißklänge schon wieder aus Mercimek verschwunden.

Der Gouverneur hat ihre Entfernung befohlen, sagt ein Jugendlicher auf dem Dorf. Woher die Transparente überhaupt kamen, wußte man in Mercimek nicht. Klar schien nur, daß niemand im Dorf auf solche Ideen käme. „Das ist die Handschrift der Fundamentalisten“, meinten türkische Journalisten.

Die eigentliche Trauerfeier, der öffentliche Akt, im Beisein fast der gesamten türkischen Regierung und von Bundesaußenminister Klaus Kinkel, findet gestern mittag ohnehin nicht in Mercimek, sondern in der eine Viertelstunde Autofahrt entfernten Kreisstadt Tasova statt.

In dem Park vor der Moschee singt der Hoca schon vom frühen Morgen Trauergebete aus dem Koran. Sämtliche Dienstsessel aus dem Rathaus sind in Reih und Glied für die Ehrengäste vor die Mikrofone gestellt worden. Die gesamte 10.000-EinwohnerInnen- Stadt sowie viele Menschen aus den Nachbardörfern sind auf den Beinen.

In Tasova mit seiner großen Auswandertradition nach Deutschland weht ein anderer Wind als in dem winzigen Dorf Mercimek. Auch hier sind die Menschen freundlich zu den Ausländern. Aber sie stellen ihnen Fragen – viele und schwer zu beantwortende Fragen: „Warum bringen die Deutschen unser Volk um?“ fragt eine junge Mutter. „Warum morden die Nazis immer Türken – und nicht Jugoslawen oder Italiener oder Griechen?“ will ein alter Mann, der elf Familienangehörige in Deutschland hat, wissen. „Warum greifen die nicht die jungen Männer an, die sich wehren können, sondern schlafende Frauen und Kinder?“ klagt eine Großmutter. „Warum passierte Solingen direkt nach dem Kohl-Besuch in Ankara und warum kommt Kohl heute nicht hierher?“ bohrt ein alter Sozialdemokrat. Auch andere bringen ihre Enttäuschung über Bundeskanzler Helmut Kohl zum Ausdruck, der weder an Gedenkfeiern in Köln und Solingen noch an der Beerdigung in der Türkei teilnehmen wollte.

Vor allem die Meinungen junger Emigranten, von denen viele in diesen Tagen für das Opferfest auf Urlaub in der Türkei sind, zeigen sich differenziert, aber hart. Niemand verurteilt „die Deutschen“ in Bausch und Bogen, immer kommt die Einschränkung: „Wir hassen nur die Nazis, die andern Deutschen sind unsere Freunde.“ Die Antwort auf die Frage, woher die Nazis kommen, müssen die Deutschen selbst finden, sagen sie. Sollten die Nazis weitermachen, wollen sie zur Selbstjustiz greifen – „wir lassen uns nicht abschlachten“.

In den zurückliegenden Tagen hat die Stadtverwaltung von Tasova alles versucht, um eine Politisierung der Trauerfeier zu vermeiden. „Das hier ist schließlich ein kulturelles Ereignis und keine Politik“, erklärt der Stadtdirektor Melih Ozay. Ein „antirassistisches Bündnis“, das Plakate gegen den „Faschismus in aller Welt“ kleben will, wird ausgegrenzt, die Plakate verboten. „Die wollen, daß man hier nur Tränen und Trauer sieht, damit Bonn nicht verärgert wird“, erläutert ein in Darmstadt aufgewachsener junger Mann.

Die möglicherweise gewünschte reine Trauerveranstaltung gelingt nicht in dem Moment, als die drei Hubschrauber mit Bundesaußenminister Klaus Kinkel und weiteren Prominenten an Bord über den Platz rattern, der immer noch mit den Klageliedern des Hoca beschallt wird. Als bereits die fünf Särge vor der Moschee aufgebahrt sind und sich die Menschen in dichten Reihen um das Zentrum der Zeremonie aufgestellt haben. In dem Moment wird der Applaus für die einfliegenden Besucher von zwei lauten, wütenden Sprechchören übertont. Dort, wo zwangsläufig Kinkels und der anderen Prominenten Blick hinfällt, stehen jetzt doch die ausgebooteten Antirassisten von Tasova. Sie halten zwei riesige Transparente hoch. „Nieder mit dem Faschismus“, steht da. Kaum hundert Meter weiter recken Dutzende von islamischen Fundamentalisten die Hände zum Victory-Zeichen in die Luft. Aus einem Baum heraus dirigiert ein Chef ihre Slogans. „Allah ist groß“, „Wir wollen morden“ und „Du Europa, wir kennen dich nicht“ skandieren sie. Hier taucht dann auch der in Mercimek verschwundene Slogan wieder auf: „Ankara schläft und die Nazis legen Feuer.“

Mitten im Gedränge auf dem Moschee-Vorplatz, um den herum Fundamentalisten und Linke demonstrieren, stehen dann der türkische Premier Erdal Inönü, Staatspräsident Süleiman Demirel und Außenminister Klaus Kinkel. Kinkel bittet um „Vertrauen“.