Gegen das Establishment anmurmeln

Das Theatertreffen ist vorbei, aber die Krise geht weiter: Auch auf dem Internationalen Forum junger Bühnenangehöriger wurde über die alte Frage einer besseren Zukunft für das Theater diskutiert  ■ Von Reimar Brahms

Ein sonniger Nachmittag im Hochmeistersaal der evangelischen Kirchengemeinde in der Paulsbornerstraße: Im nur schütter sakralisierten Raum zeigen die vier Workshops des diesjährigen Forums junger Bühnenangehöriger ihre Abschlußergebnisse. Nach einigen aggressiven und seeleauskotzenden Improvisationsansätzen unter Anleitung der Choreographin Nada Kokotović (Zagreb/ Duisburg) sitzen plötzlich während der meditativ ruhigen Darbietung des Workshops von Jeong-Ok Kim (Seoul) zwei junge Männer ineinander verkeilt auf einem Stuhl und bemühen sich, jeder für sich und durch den anderen gehindert, ein veritabler Hamlet zu sein. Die Behinderung ist so tragisch wie köstlich: Eine Ophelia schreitet kreisend um sie herum und erkundigt sich bei dem merkwürdigen Zwitterwesen, welch edler Geist hier wohl zerstöret sei. Die Antwort kommt gemurmelt und gleich doppelt zurück.

Etwas später – auch die anderen Workshops haben sich präsentiert – setzt sich eine Gruppe junger RegisseurInnen und junger DramaturgInnen vor die Teilnehmer und verliest ein kleines Pamphlet. Es beginnt mit „Es war einmal...“ und versucht in Märchenform eine gemeinsame Sehnsucht zu formulieren, denn „die aktuellen Theaterstrukturen präsentieren sich als eine Maschinerie, die durch sinnentleerte Wiederholungen unter Umgehung aller Risiken kreative Prozesse verhindert“. Die nachfolgenden Thesen sind so einfach wie kompliziert und provozieren ein „Déjà-vu“: 1. Das Theater darf nicht nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben werden. 2. Theater ist Risiko. 3. Das Scheitern mit Theater muß möglich sein. 4. Theater muß Freiraum sein für Reflexion und Sensibilität. 5. Die strukturellen Bedingungen müssen diesen Forderungen angepaßt werden, und nicht umgekehrt.

Kaum ist das Papier verlesen, ist die Sitzung auch schon zu Ende. Die Hamlets zerstreuen sich, bedrängen sich und das Establishment nicht mehr, gehen ihrer Wege. Was ist passiert? Anderthalb Wochen haben ein gutes halbes Dutzend engagierter Leute ihre Theaterarbeit in der Provinz unterbrochen und in Berlin um ästhetische und politische Standortstimmung, Utopie und präzise Formulierung gekämpft. Am Ende blieb nur ein Teil des Hamlets übrig: der, dem das Maul gestopft wird. Vielleicht auch der, der sich dem bunten Treiben und dem Überangebot des Theatertreffens ergeben hat? Ist also der Schluß erlaubt, daß die jungen Leute – allesamt um die 30 Jahre und mit bescheidenen, aber professionellen Berufserfahrungen ausgestattet – gegen das Establishment nur anmurmeln, ohne selbst den eigenen, neuen Weg zu finden?

Die Fragen und Kritikpunkte der diesjährigen TeilnehmerInnen sind so wenig neu wie das Treffen selbst. Tatsächlich ist das Internationale Forum junger Bühenangehöriger die älteste Rahmenveranstaltung, die das Theaterteffen aufzuweisen hat. Seit 1965 gibt es diese Einrichtung, und seit 1966 ist Dr. Manfred Linke so etwas wie die gute Seele der Unternehmung. Wenn dieser kleine, quirlige Mann im jüngsten Theatertreffen-Journal der „Mutter“ des Forums zum 30jährigen Bestehen gratuliert, so hat das etwas von der Ehrbezeugung eines frechen, an seiner Pubertät mit verschmitzter Lust und Laune festhaltenden Sohns. Das Forum, mit seinen 29 Jahren mal gerade ein Jahr jünger als das es beheimatende Festival, verdient seine jugendhafte Ausstrahlung nicht zuletzt diesem umtriebigen Mann, der am liebsten inmitten der jungen Generation einer nachwachsenden Theaterberufswelt agiert. Ganz offensichtlich fühlt er sich hier am wohlsten, an der gefährlichen Nahtstelle zwischen etablierten Langweilern und aufmüpfigen Nachwüchslern.

Ende der aufgeregten 60er Jahre war der aus Halle (Saale) gebürtige Industriekaufmann, der 1958 an der Westberliner FU eine wissenschaftliche Karriere begann, genau der richtige Mann, um bei der rebellischen Nachwuchsgeneration von jungen Theatermachern den richtigen Ton zu finden.

Gern erinnert er sich an die damals weit stürmischeren Zeiten, als das Forum zwar noch einfach „Begegnung“ hieß, den Teilnehmern aber die theaterimmanenten Diskussionen nicht mehr genügen wollten. Die Streitbarkeit der jungen Generation schlug hohe Wellen, und der erste Leiter des Forums, Joachim-Werner Preuß (heute Theatergalerie, SFB), strich bald die Segel. Anders als Linke kam er mit den aufmüpfigen Jungregisseuren und Schauspieleranfängern nicht zurecht. Lieber wandelte er sich zum theatralen Stadtschreiber, der aus den hermetischen Gefilden des Radioäthers heraus gemütliche Distanz betreiben konnte – und wohl immer noch kann.

Wenn Manfred Linke an die anfänglichen Schwierigkeiten zurückdenkt, lächelt er verschmitzt und erzählt von den damaligen Unkenrufen, das Forum sei „Linkes linke Ecke“, wie die alten Herren des Bühnenvereins es gern betitelten. „Der Generationskonflikt war damals abgrundtief. Die Forumteilnehmer wollten die eingeladenen alten Inszenierungen, von Regievater Hans Lietzau etwa, nicht mehr sehen, weil man das für den hochgestochenen Staatstheaterscheiß hielt.“ Das sei Dressurtheater – aus der Hierarchie heraus entstanden. „Die Bereitschaft zur detaillierten Auseinanderstzung mit der inhaltlichen Substanz war gleich Null. Zwar ging man sich schnell an die Gurgel, aber es gab keine Streitkultur. Damals mußte der Unmut raus, und ich habe versucht, ihn zuzulassen und zu kanalisieren.“

Als die große ideologische Schlacht der Söhne ausbrach, machte Linke sich auf die Suche nach den richtigen Ansprechpartnern – und fand sie vor allem in den Schauspielern und Regisseuren der Schaubühne. „Die wollten auch wissen, was sie eigentlich wollten, und waren sich selbst nie so ganz sicher.“ Schon damals war es ihm vor allem wichtig, nicht nur im luftleeren Raum zu theoretisieren, sondern sich Weggefährten heranzuziehen, die entsprechende Erfahrungen gemacht hatten: „Die Offenheit war notwendig – sie hat viel relativiert. Spannend, wie da allerlei Illusionen nach und nach abgebaut wurden. Da gerieten fruchtbare Kreativität und die furchtbar große Klappe hart aneinander. Und am Ende sah man, daß die schlimmeren Diktatoren oft die mit der größten Klappe waren.“

Ab 1975 wurde die Arbeit im Forum dann produktiver. George Tabori machte damals den Anfang einer Reihe von Workshops, die Gelegenheit gaben, alternative Arbeitsweisen auszuprobieren und das Miteinander der verschiedenen Berufsfelder unverkrampft zu fördern. Mit Autoren wie Volker Braun, Thomas Brasch, Peter Handke, Heiner Müller und vielen anderen wurde seit 1980 eine eigene Workshop-Ecke mit deutschen Dramatikern eingerichtet, die in diesem Jahr der Schweizer Thomas Hürlimann leitete. Viele Forumteilnehmer kehrten Jahre später als Workshopleiter noch einmal zurück. Regisseure wie Andrea Breth, Dietrich Hilsdorf, Peter Löscher, Jossi Wieler und Intendanten wie Volkmar Clauß, Bernd Leifeld oder Achim Thorwald.

Was aber ist mit der heutigen Generation geschehen, die zwar ausgiebig diskutiert, dann aber vor dem rebellischen Schritt zurückweicht? Manfred Linke sieht, wie schwer es den jungen Leuten derzeit gemacht wird: „In den Theatern beginnt wieder ein Prozeß des Sich-Abschottens. Da gibt es eine große Schwierigkeit, sich auf etwas einzulassen, das den eigenen Dunstkreis verläßt.“ Er bedauert, daß die Gruppe von Regisseuren und Dramaturgen, die sich dieses Jahr neben dem übervollen Workshop- und Theaterprogramm die Zeit nahm zum Diskutieren über die Malaise deutscher Theaterstrukturen, zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen ist. Dem Pamphlet fehlt es an Provokation. Der Hamlet ist zu stark mit der eigenen Verhinderung beschäftigt.

Es fehlt vor allem an Vorbildern: „Es ist genau wie im alltäglichen Leben, wo der Wohlstand einer kleiner Gruppe immer mehr zum Schrecken aller anderen ausartet. Eine Reihe von Intendanten benimmt sich genau wie die Politiker: Sie machen nichts für die Sache, sie machen alles nur für sich selbst, und wenn einer anders ist, können sie das gar nicht kapieren. Und jemanden, dem es tatsächlich um die Sache geht, den halten sie in ihrem Sinne für ganz besonders raffiniert. Da wird am Schillertheater zum zweiten Mal einer für viel Geld ausgezahlt, damit er weggeht – das kapiere ich nicht. Da ist keine Moral mehr, alles ist zur Selbstbedienung verkommen. Und die jungen Leute werden einfach alleingelassen.“

Aber immerhin gibt es auch einige Theaterleute, die sich kontinuierlich für den Bühnennachwuchs einsetzen: Manfred Beilharz aus Bonn zum Beispiel, und Friedrich Schirmer in Stuttgart. „Die Jungen brauchen jemanden, der über sie die Hand hält und sie nicht gleich zurückzieht, wenn etwas danebengeht. Theater ist ein Hochseilakt, und wenn einer wackelt, kann man ihm nicht auch noch die Stange wegnehmen.“

Linke weiß auch, daß sich in den 14 Tagen, die das Forum bereithält, die inneren Gegensätze der jungen Berufstätigen nicht bereinigen lassen: „Wir haben nicht den Kitt in der Schüssel, um da zu helfen. Das muß vor Ort passieren. Immerhin gibt das Forum Gelegenheit festzustellen, daß man nicht allein ist. Das ist doch wohl schon mal ein wichtiger Gesichtspunkt gegen den Zynismus. Man merkt, daß man nicht vereinzelt ist.“

Manfred Linke weiß um die besondere Stellung, die er dem Forum im Laufe der Jahre erarbeitet hat, und mit Stolz in der Stimme vergleicht er es mit einem Stachel im Fleische des Immergleichen. Daß dieser Stachel seit einigen Jahren seinen festen Platz auch in der Verfahrensordnung des Theatertreffens gefunden hat, ist für Linke nach 27 Jahren Forumerfahrung eine so wichtige Sache, daß er darüber freudestrahlend zu berichten weiß. „Ich wünsche mir, daß der besondere Charakter, den das Forum hat, gewürdigt und erhalten bleibt. Gerade auch hier im Haus der Berliner Festspiele.“ Und überraschenderweise geht es einmal in Sachen Kultur nur ganz nebenbei ums Geld: „Seit 1989 ist unser Etat separiert, so daß keine anderen Begehrlichkeiten sich auf uns richten können.“

Manfred Linke bemüht sich jedes Jahr aufs neue um den Nachwuchs, der von den Schwächen der Marktwirtschaft und kruder Karrieregeilheit gnadenlos umstellt ist und sich dabei immer wieder als Seismograph für gesellschaftliche Unzufriedenheit und persönliche Bedürfnisse erweist. Linke hat dafür die richtige Empfindlichkeit: Es dürfe nicht verwundern, wenn im trägen Betrieb der Kulturinstitution „Theatertreffen“ einmal wieder mehr und lauter vom Forum zu hören sein wird. So lange Manfred Linke das Forum leitet, wird die Gelegenheit dazu vorhanden bleiben. Ob es so weit kommen wird, bleibt allerdings allein die Sache der jungen Bühnenangehörigen.