Oft ist das Tagwerk kaum zu bewältigen

Serie: Umland-Utopien (dritte Folge): Auf dem Karolinenhof bei Flatow wird mit wenig Geld und viel Arbeit der Traum vom eigenen Hof und der naturgerechten Ziegenhaltung verwirklicht  ■ Von Gerd Nowakowski

Im Halbdunkel des Stalles sind die beiden hockenden Menschen zwischen den Ziegenrücken zunächst kaum auszumachen. Zehn Ziegen stehen in der Melkgasse nebeneinander, am Kopf festgehalten durch eine so sinnvolle wie einfache Konstruktion. Mit einem rhythmischen Geräusch spritzt die Milch in den Eimer. Gela und Roger sind beim morgendlichen Melken. Die strohblonde Ronja, eineinhalb Jahre alt, tapst zwischen den Ziegen umher und macht erste Melkversuche. Der fünfjährige Birk klettert im Stall umher.

Morgens und abends sind die dreiundvierzig Ziegen zu melken, egal ob es draußen stürmt oder die Grippe zugeschlagen hat. Neunzig Liter Milch kommen da täglich zusammen und müssen in großen Kannen zur Käserei geschleppt werden. Doch die Bilanz der Mühe ist mager: Aus zehn Litern Milch wird ein Kilo Käse.

Bald wird es noch mehr Arbeit geben: Dann werden es nämlich einhundert Ziegen sein, die täglich durch die Melkgasse getrieben werden müssen. Dann aber, so hoffen Gela und Roger zumindest, wird die neue Melkstation und Käserei eingerichtet sein und die Arbeit rationeller ablaufen.

Seit dem Spätsommer 1991 leben die beiden auf dem Karolinenhof, der einige Kilometer nordwestlich des Berliner Rings im Kreis Oranienburg liegt. Die ebene Landschaft hat für Brandenburger Verhältnisse einen ausgesprochen fruchtbaren Boden. Monatelang hatten die beiden zuvor Gehöfte angeschaut, „jeden Feldweg abgegrast„ (Roger) und mit der Treuhand verhandelt. Nun besitzen sie einen weitläufigen, teilweise üppig bewachsenen Hof mit etlichen sanierungsbedürftigen Gebäuden und zweieinhalb Hektar Land. Von der ehemaligen LPG Flatow haben sie weitere 32 Hektar gepachtet, um darauf Futtergetreide anzubauen.

Der erste Winter? Die vierundzwanzigjährige Gela Angermann, die jetzt im fünften Monat schwanger ist, macht es kurz: „Kalt war's, sehr kalt.“ Das einzige, was am Haus nicht defekt war, als sie hinauszogen, war das Dach. Gela war zudem hochschwanger. Auch nach der Reparatur der zerborstenen Fensterscheiben zog es wie Hechtsuppe. Das schlecht isolierte Haus war nicht warmzubekommen, die Pumpe für den eigenen Brunnen war gestohlen worden, und auch Strom gab es zunächst nicht. Badezimmer? „Vergiß es.“ In einem Zimmer lebten sie zusammen mit dem damals vierjährigen Birk. Mitten im Winter wurde dann Ronja geboren. Heute ist das Haus weiß gestrichen – die Fenster blau abgesetzt – sowie eine Küche und ein Badezimmer gebaut. Der neunundzwanzigjährige, schlaksige Roger Lemke hat außerdem eine Misthaufenheizung gebaut: Einhundertfünfzig Meter Schläuche sind in einem großen Haufen verlegt. Das durchfließende Wasser – das durch den Mist immerhin bis auf 75 Grad erhitzt wird – speist eine Fußbodenheizung im Haus.

Trotz der Fortschritte – leichter hatten sie sich den Traum vom eigenen Hof und einer biologisch- dynamischen Aufzucht von Ziegen allemal vorgestellt. Dabei hatten sie nicht einmal Illusionen, was die Ziegenzucht anging. Schließlich sind die beiden – er ist aus dem Schwarzwald, sie aus Bayern – gelernte Landwirte mit etlichen Jahren Erfahrung mit Ziegen. Aber alles ging viel langsamer voran, als sie erwartet hatten. Zwar beeindruckten die Fachkenntnisse der beiden Landwirte die Behörden und auch die Mitglieder der ehemaligen LPG. Als Spinner seien sie nicht angesehen worden, sagt Roger, „aber verschiedene Welten prallten schon aufeinander“. Nur eines von vielen Problemen war, daß in der DDR die Produktion von Rohmilchkäse verboten war.

Insbesondere das fehlende Geld verzögerte vieles. Die zugesagte Starthilfe der Landesregierung kam erst nach einem dreiviertel Jahr. Statt wie geplant mit achtzig gekauften Ziegen sofort die Käseproduktion starten zu können, mußten die Ziegen wegen Geldmangels selbst aufgezogen werden. Die Käseproduktion konnte deshalb erst in diesem Jahr beginnen.

Doch auch die Ziegenaufzucht hat ihre Tücken. „Erfahrung hilft schon, aber dennoch gibt es immer neue Probleme“, weiß Roger. Viel Mühe bereitete beispielsweise bei dem unbekannten Boden die Ermittlung der richtigen Futterkombination. Wenn die Mischung aus grünem Gras und Getreide nicht ausbalanciert ist, können die Ziegen an den davon ausgelösten Blähungen durchaus sterben: was auch passierte. Neben der Arbeit mit den Tieren mußten auch die heruntergekommenen Scheunen repariert und in einem Stallgebäude eine Käserei gebaut werden.

In diesem Frühling ist die Arbeit mit anlaufender Produktion noch umfangreicher geworden. Vierzehn Stunden Arbeit sind die Regel – an sieben Tagen der Woche. „Silvester waren wir das letzte Mal einige Stunden vom Hof weg“, erinnert sich Gela. Kein Wunder, daß manchmal die Kräfte am Ende sind – und die Motivation auch.

„Vor kurzem hätte ich alles hinschmeißen können“, erzählt Gela, der man nur an den kräftigen Händen die harte Arbeit ansieht. „Wir hatten einfach nicht mehr die Kraft, morgens um halb sieben aufzustehen“, sagt Roger. Er sehnt sich danach, „mal wieder mit dem Kopf rauszukommen“. „Ohne die Hilfe von vielen Freunden hätten wir das sowieso nicht geschafft“, fügt er hinzu, während er in der Küche die von Ronja verschüttete Milch aufwischt. Da kam die Mitteilung, daß die Fördergelder nun endlich bewilligt sind, als Motivationsschub gerade rechtzeitig.

Kaum zu bewältigen war das Tagwerk, als im Frühjahr fast einhundert Zicklein geboren wurden und versorgt werden mußten. Während die Muttertiere nämlich weiterhin für die Produktion Milch geben, werden die Jungen anfänglich ganz individuell mit der Flasche aufgezogen. Haben sie sich an den Nuckel und die Trockenmilch gewöhnt, wird die Fütterung rationalisiert: Eine Tränkeinrichtung mit jeweils zehn Babysaugern simuliert eine Zitzenbatterie. Die Böcke freilich wurden alsbald geschlachtet – ein notwendiger Akt, den Gela aber Roger überläßt.

So vieles gleichzeitig wäre zu tun: Ein Verkaufsraum neben der Käserei soll eingerichet werden und möglichst bald die Bauarbeiten für die große Melkstation und Käserei beginnen. An einen Verkauf auf anderen Märkten oder die Belieferung von Läden in Berlin ist folglich derzeit nicht zu denken. Dringend suchen sie deshalb nach Leuten, die eine Zeit auf dem Hof arbeiten wollen. Dennoch, während wir an einer Scheune vorbeilaufen, deren Dach der letzte Winter zum Einsturz brachte, schmiedet Roger bereits wieder Pläne: In einer Werkstatt schafft ein Holzschnitzer, dessen Werke im Herbst ausgestellt werden sollen, und irgendwann wollen sie auch ein Restaurant auf dem Hof einrichten.

Karolinenhof, 1421 Flatow, Verkauf Freitag bis Montag

Die Serie wird am kommenden Montag fortgesetzt.