Nebensachen aus Washington
: Politisches Memory

■ Wo ist's schlimmer, in Deutschland oder in den USA?

Seit einiger Zeit gibt es sonntags beim gemeinsamen Frühstück im Café wieder eine klare Arbeitsteilung zwischen meiner Freundin Clarice und mir. Sie grapscht nach dem Inlandsteil der Zeitung, ich, sofern das Blatt gewaltfrei auseinanderzupflücken ist, nach den Auslandsnachrichten. Dann folgen Minuten der Stille und Lektüre, in deren Verlauf sich unsere anfangs noch entspannten Physiognomien einer radikalen Wandlung unterziehen: schließlich waren wir auf Capuccino eingestellt, nicht auf schlechte Nachrichten.

Meist fordere ich sie dann zu einer Partie stinking politics auf, unserem transatlantischen Memory-Spiel. Clarice darf anfangen: „Unser Verteidigungsminister hat gerade auf Staatskosten mitsamt Freundin und Mitarbeiterstab in Venedig Urlaub gemacht.“ (Nicht ganz korrekt, würde jetzt der imaginäre Schiedsrichter sagen: Für die Freundin hat er inzwischen die Flugkosten zurückerstattet.) Egal. Da kann ich mithalten: „Unser Verkehrsminister hat sich seine Putzfrau zu zwei Dritteln und einen Umzug komplett aus der Staatskasse bezahlen lassen.“ („Ex-Verkehrsminister“, wendet der imaginäre Schiedsrichter ein, läßt aber beide Punkte gelten.) Es steht 1:1.

„Im Kongreß drohen sie, die Gesundheitsreform platzen zu lassen, wenn Abtreibungen mitfinanziert werden“, sagt Clarice. Ich kann kontern: „Bei uns hat gerade das Verfassungsgericht entschieden, daß die Krankenkassen nicht mehr für Abtreibungen zahlen müssen.“ Neuer Spielstand: 2:2.

Letzte Runde – Clarice legt sich ins Zeug: „Unser Präsident leidet an zunehmendem Rückenmarkschwund, weil er ständig meint, die Rechten im Kongreß einfransen zu müssen.“ – „Unser Kanzler leidet an irreversibler Hornhaut-Überproduktion im Hirnbereich, weil er schon längst nicht mehr zwischen Normalisierung und Rechtsradikalisierung Deutschlands unterscheiden kann.“ In Anbetracht dieses Wortschwalls ist Clarice so überrascht, daß sie mir ohne weiteres drei Punkte zugesteht. Ich gewinne mit 5:3.

Clarice ist seit Wochen untröstlich, weil sie an Clintons cold turkey leidet, wobei es sich nicht um ein Menü, sondern um Entzugserscheinungen handelt. Nach einer kurzen Phase der Aufbruchstimmung, die bei manchen zu körperlicher Abhängigkeit geführt hat, hat Clinton jetzt jeden Euphorie-Nachschub gestoppt. Clarices letztes Fünkchen Hoffnung auf das Gute an diesem Präsidenten erlosch, als der Mann die Nominierung einer schwarzen Anwältin zurückzog, die Leiterin der Bürgerrechtsabteilung im Justizministerium werden sollte. Die Konservativen im Kongreß hatten aufgeschrien, weil sie in juristischen Aufsätzen zu radikale Ansichten über Minderheitenrechte vertreten hatte. Ich kann den Schmerz meiner Freundin verstehen. Der Mann hat nichts mehr vom Charisma eines Hoffnungsträgers; man fühlt sich eher an einen Schuljungen erinnert, der ständig beim Rauchen erwischt wird.

„Kann sich alles ändern“, tröste ich. „Nichts ist so alt wie die Meinungsumfrage von gestern.“ Im übrigen, sage ich, soll sie froh sein, daß es in den USA überhaupt eine Bürgerrechtsabteilung gibt, über dessen personelle Besetzung man sich streiten kann. „Bei uns in Deutschland sind noch nicht mal alle Menschen Bürger.“ Ergo gibt's auch keine Abteilung für ihre Rechte.

Nach dieser eher niederschmetternden Runde tauschen wir Inlands- und Auslandsteil der Zeitung. Nach fünf Minuten gemeinsamen Schweigens und Lesens schenkt der Kellner Kaffee nach und will von mir wissen, wie man Solingen richtig ausspricht. Wir üben ein bißchen, während Clarice auf ihrer Serviette eine neue sprachwissenschaftliche These formuliert. Demnach ist der Grundwortschatz eines amerikanischen Durchschnittsbürgers in der deutschen Sprache auf sechs Worte angewachsen: Solingen, danke schön, Moelln, wie geht's, Rostock und Fahrvergnügen. Andrea Böhm