Elektrisierendes Fernsehgucken

Ein Besuch auf der internationalen TV-Programmschau „Input“ in Bristol  ■ Von Ralf Sotscheck

„Das Beste des öffentlichen Fernsehens aus der ganzen Welt“ – das versprachen die Organisatoren der „Input“, im englischen Bristol zu zeigen. Bei „Input“ – das Kürzel steht für „International Public Television Screening Conference“ – führen sich 800 Programm-MacherInnen des nicht-kommerziellen Fernsehens eine Woche lang gegenseitig ihre umstrittensten, innovativsten und lustigsten Produktionen vor.

„Input“ hat seine Arbeit immer als Plädoyer für eine „Ökologie des Fernsehens“ verstanden. Die Auswahl der Programme, die hier gezeigt werden, ist subjektiv. Bereits bei der Vorauswahl haben die Obleute in ihren Heimatländern freie Hand. Einzige Bedingung: Die Regisseure oder Produzenten der vom Internationalen Vorstand ausgewählten Beiträge müssen sich der Diskussion stellen. In Bristol waren 101 Filme aus 35 Ländern zu sehen – eine geballte Ladung öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Zusätzlich wurden in sechs Kellerräumen auf Wunsch Filme gezeigt, die es nicht bis ins offizielle Programm geschafft haben.

Um den „Input“-TeilnehmerInnen bei dieser Angebotsfülle wenigstens Anhaltspunkte zu geben, wurden die meisten Programme in bestimmte thematische Schwerpunkte eingeteilt. Bei „Do it yourself“ haben Amateure Filme über sich selbst, ihre Familien oder ihr Land gemacht. Zwei herausragende Beispiele: „The Man Who Loves Gary Lineker“, eine BBC- Produktion von Bob Long, bei der einem jungen albanischen Landarzt eine Kamera in die Hand gedrückt wurde. Ylli Hasani hat damit einen Film gedreht, der mit einem äußerst individuellen Sinn für Humor ein eindringliches Bild seines Landes zeichnet.

Bei „Ujeli“, dem ersten „Input“-Beitrag aus Nepal, geht es um das Schicksal eines zehnjährigen Mädchens, das mit einem gleichaltrigen Jungen verheiratet wird. Kinderehen, so erklärte Produzentin Rina Gill, sind in Nepal zumindest auf dem Land nach wie vor üblich, wenn auch illegal. Der Film erzählt die Geschichte behutsam, die Bilder bleiben lange stehen, die Handlung ist chronologisch aufgebaut. „Das Zielpublikum ist die nepalesische Landbevölkerung“, erklärte Regisseur Deependra Gauchan in der anschließenden Diskussion. „Viele kennen überhaupt kein Fernsehen. Deshalb ist die Dramaturgie für westliche Augen manchmal etwas schleppend.“ Das Publikum empfand den Film jedoch überhaupt nicht als schleppend, sondern war von den BewohnerInnen des stromlosen Dorfes elektrisiert, die sich mit einer Spielfreude selbst darstellten, der es keineswegs an Humor und Situationskomik fehlte.

Ein anderer Schwerpunkt war die „Verlockung des Sensationalismus“. Kann das öffentliche Fernsehen der Versuchung widerstehen, mit den Mitteln der Boulevardpresse den privaten Anstalten beim Kampf um die Einschaltquoten Paroli zu bieten? Das Ergebnis war zwiespältig. Bei „Katie and Eilish“ geht es um dreijährige siamesische Zwillinge aus Irland. Der britische Regisseur Mark Galloway hat über Wochen und Monate die quälenden Diskussionen und Zweifel der Eltern festgehalten, die sich schließlich dafür entscheiden, die Zwillinge trotz des Risikos trennen zu lassen. Die Operation scheint zunächst ein Erfolg, doch wenige Tage später stirbt Katie. Obwohl das Thema für einen Sensations-Bericht prädestiniert scheint, widersteht Galloway der Versuchung und zeichnet ein sensibles Bild der Familie, wobei er ruhige Bilder, lange Einstellungen und weiche Schnitte einsetzt.

Das Gegenteil trifft für den australischen Beitrag „Silvania Waters“ zu, der sechsten von zwölf Episoden über eine Kleinstadt-Familie. Schon in der ersten Szene wird deutlich, daß Brian Hill und Kate Woods, das Regie-Team, die Familie hassen, was beide später auch unumwunden zugeben. Der Film kommt ohne jeden Kommentar aus, doch mit jeder Einstellung, jeder verzerrenden Nahaufnahme und jedem Satz wird beim Publikum das Gefühl der Abscheu vor dieser rassistischen, sexistischen – und kleinbürgerlichen Familie verstärkt. Gewiß, der Film ist sensationalistisch, aber es ist verblüffend, wie gemein eine Kamera sein kann.

Von den „vielen Gesichtern der Kunst“, einem weiteren Schwerpunkt, waren vier zu sehen: aus den Niederlanden, Kanada, Großbritannien und Kuba. Die Filme zeichnen sich durch sorgfältige Choreographie, Poesie und den Einsatz moderner technischer Mittel aus, doch man kann sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, daß die Bilder zum Teil nur um ihrer selbst willen gedreht wurden. Ganz anders bei den „Kurzgeschichten“, vor allem bei den „Drei Magi“, einem Film von Bela Szobolits aus Ungarn. Dabei geht es um drei sehr alte Männer, die sich bei Drehbeginn noch nicht kannten. Szobolits hat sie zusammengebracht und ihre Geschichte parallel erzählt: Der Tod der Frau, der Verlust der Familie in Auschwitz – die drei Alten beschäftigen sich ausschließlich mit dem Tod, sie scheinen weder zu den Lebenden noch zu den Toten zu gehören. Szobolits arbeitet durchgehend mit biblischen Metaphern. „Die drei Magi“ ist ein Film, den man wohl mehrmals sehen muß, um sämtliche Nuancen zu verstehen.

Unter dem Stichwort „Krieg“ sind „The Panama Deception“ – Barbara Trents eindringlicher Film über die rücksichtslose Zerstörung, die die USA bei der Invasion Panamas 1989 anrichteten – und „Biological Warfare Unit 731“ von dem japanischen Regisseur Hideo Kado über die japanischen Experimente mit bakteriologischen Waffen während des Zweiten Weltkriegs hervorzuheben. Von den deutschen Produktionen fanden „Abgetrieben“ von Norbert Kückelmann und Egon Günthers ausgezeichneter Film „Lenz“ über die Beziehung zwischen Goethe und Jakob Lenz am meisten Aufmerksamkeit – ebenso wie die erste Folge der „Zweiten Heimat“, die in Großbritannien ein breites Publikum gefunden hat.

Die „Input“-Konferenz findet seit 1978 abwechselnd in Europa und Nordamerika statt. Das ursprüngliche Ziel, den Programmaustausch zwischen Europa und den USA zu fördern, konnte freilich nie realisiert werden, die USA importieren noch immer kaum mehr als zwei Prozent der Programme. Heute geht es mehr um den Austausch von Meinungen und Ideen, auch zwischen Nord und Süd. Doch ein Gradmesser für die Entwicklung und Qualität des öffentlichen Fernsehens ist „Input“ nicht. Die Programme sind nicht repräsentativ, die TeilnehmerInnen ebensowenig: „Input“ ist ein durchaus interessantes und wertvolles Treffen Gleichgesinnter. Das wurde auch bei den Podiumsdiskussionen deutlich. Die Veranstaltung zum Thema Gleichberechtigung in Rundfunk und Fernsehen ging über ein Kopfnicken nicht hinaus. Zwar stimmten alle darin überein, daß etwas geschehen müsse, doch hatte niemand einen konkreten Vorschlag, weil der Spielraum für engagierte FilmemacherInnen im öffentlichen Fernsehen aufgrund des Drucks durch die Privaten immer enger wird. Eher ärgerlich war der Auftritt des BBC-Generaldirektors John Birt, der mit der Einführung rein marktwirtschaftlicher Prinzipien zum Totengräber der BBC geworden ist. Keine kritische Frage kam seitens der Delegierten. Birt wehrte die Presse ab: „Das ist keine Pressekonferenz, ich spreche hier zu den Delegierten.“