Kein schöner Opfergang

Frank Castorf inszeniert „Alkestis“ von Euripides  ■ Von Sabine Seifert

Thanatos soll ihn holen, der Tod, aber Admetos (Robert Hunger-Bühler) will nicht sterben. Sucht Ersatz, sucht ein Opfer. Also fragt er Pheres, den eigenen Vater. Doch der unwürdige Greis (Wilfried Ortmann) denkt nicht daran, sich vorzeiten vom Leben zu verabschieden. Nur Alkestis (Sivia Rieger), die Frau des Admetos, findet sich bereit, das Opfer zu bringen, stirbt beizeiten. Eine schöne Geste von ihr – ein Liebesbeweis? Admetos nimmt das Opfer an. Keine schöne Geste von ihm – aber ein Liebesbeweis?

Frank Castorf hat das erste erhaltene Stück von Euripides (438 v. Ch.) im Auftrag der Wiener Festwochen inszeniert und es jetzt im eigenen Haus, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, dem Berliner Publikum präsentiert: Eine Tragödie, die keine ist, da sie ein gutes Ende nimmt, alle Regeln der dramatischen Kunst mißachtet, von vornherein als Farce angelegt ist. Ein kleines Lehrstück über den Umgang mit dem Tod. Oder vielmehr über das Nicht-Umgehen-Können mit dem Tod, das „Nicht-Leben-Wollen und Nicht- Sterben-Können“ als „modernes Phänomen“ (Programmankündigung).

Drei junge Frauen (Claudia Michelsen, Astrid Meyerfeldt, Susanne Düllmann) schichten Stein auf Stein. Die Mädels sehen aus, als seien sie dem BDM entsprungen: braune Strumpfhosen, braune Pullover und schwarze Trägerröcke, um den Arm ein rotes Band. Sie markieren den Chor der antiken Tragödie, vertreten aber auch die Fraktion der Trümmerfrauen: die Frau, das dienstbare Wesen. Irgendwo entsteht eine Lücke, worauf ein Stein an anderer Stelle der Mauerkunst entnommen wird, was wieder eine neue Lücke reißt und so weiter, und so weiter. Der Wiederaufbau als Slapstick, der Mauerbau als absurdes Unterfangen. Eine von ihnen vermauert den Zugang zum Haus, damit Thanatos nicht zu Alkestis vordringt. Doch der Tod kommt überall durch, die Mauer stürzt ein. Wenn die Mädchen nicht weiterwissen, weil sie ratlos, verzweifelt sind, dann mauern sie wieder.

Als später eine von ihnen wagt, ein hübsches 50er-Jahre-Kleidchen anzuziehen, bekommt sie von ihrer Kollegin einen Sack Schutt über Kopf und Körper geschüttet. Ein Neuanfang wird nicht geduldet, die Moral ist streng – aber flüchtig. Ein Fremder kommt zu ihrem Haus, der vermummte Herakles (Gerd Preusche in seinem schwarzen „Räuber“-Dress), mit zwei Getränkenetzen, die zwölf Flaschen Bier enthalten, die er alle in einer obszönen Geste in den Blechsarg Alkestis' entleert. Die Mädchen stürzen sich auf den Biertrog, schlürfen das Gebräu grunzend und quiekend und prustend herunter. Wie in einem Rausch reißen sie die Mauer ein.

Die Inszenierung füllt das Stück mit zahlreichen, mehr oder weniger witzigen Details aus dem Leben in der verflossenen DDR; „das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“, wie es mal in einem Film von Thomas Brasch hieß. Ein Zustand allgemeiner Lähmung, Verunsicherung, wie er nach dem Krieg geherrscht haben mag, wie er in den letzten Jahren der DDR und auch in den vergangenen drei Jahren zu beobachten war.

Eines der Mädchen kann sich aus der Erstarrung lösen. Die Bühne ist in rosarotes Licht getaucht, eine große Kugel rollt wie eine kitschige Abendsonne durch den Raum. Eine schmalzige Jahrmarkts- oder Ballhausmusik wird eingespielt. Herakles und eines der Mädchen versuchen zu tanzen, sie verweigert sich steif. Dann sieht sie, wie der rüpelige Herakles mit dem Finger von der Asche (der Urne) kostet. Ein Frevel, eine makabre Tat, die sie schaudern läßt. Dann probiert sie es auch. Fängt an zu lachen – das Leben geht weiter, sagt man in solchen Fällen.

Castorf benutzt das Stück als Stimmungsbild, als Metapher (die keineswegs immer stimmig ist): Endzeitstimmung DDR. Er verwendet viel Mühe darauf, Bilder für diesen Zustand des Das-eine- geht-nicht-und-das-andere-auch- nicht zu finden. Eine Art Momentaufnahme, die neben dem Tragischen auch das Triviale hervorhebt, mal unerheblich, mal überheblich ist, stellenweise ganz amüsant und gut beobachtet, dann wieder eher langweilig und quälend wie eine Heim-Dia-Schau.

Die Psychologie der Figuren bleibt bei einer solchen Farce auf der Strecke; auf die individuelle Vertiefung und dramatische Zuspitzung der Opferthematik läßt sich Castorf kaum ein. Die Farce ist grotesk, aber nicht tragikomisch; das innere Erleben wird Teil einer allgemeinen Versuchsanordnung, ob politischer oder mythologischer Natur. Das ändert sich andeutungsweise zum Ende der Inszenierung, als Admetos seine Alkestis durch Herakles zurückerhält: Nach all dem Trauern und Jammern über die Leere, die sie in seinem Leben hinterlassen habe, weiß er nun gar nicht, wie er das Vakuum mit der zum Leben Wiedererweckten füllen soll. Sie schweigt klugerweise – und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Es ist schwer, mit der neuen Freiheit etwas anzufangen.

Euripides: „Alkestis“. Regie: Frank Castorf. Bühne: Bert Neumann. Mit Harald Warmbrunn, Juan Carlos Carvajal, Claudia Michelsen, Susanne Düllmann, Astrid Meyerfeldt, Silvia Rieger, Robert Hunger-Bühleer, Gerd Preusche, Wilfried Ortmann. Volksbühne Berlin.

Weitere Aufführungen: 12./13. 6.