Mit dem Risiko leben

■ Identifizierung des Gens für Chorea-Huntington-Krankheit wirft schwerwiegende Probleme auf / Das Recht auf Nichtwissen wird aufgeweicht

Ein internationales Forschungsteam hat jetzt nach neunjähriger Arbeit das Gen für die Chorea- Huntington-Krankheit identifiziert. Diese Erkrankung beginnt im mittleren Lebensalter und führt bei fortschreitender Zerstörung der geistigen und körperlichen Funktionen nach etwa 10 bis 25 Jahren zum Tod. Der wahrscheinlich bekannteste Huntington- Kranke war der Folksänger und Komponist Woody Guthrie, der 1967 starb.

Die Krankheit wird dominant vererbt; verantwortlich ist ein einziges Gen. Nachkommen eines Betroffenen erben das Gen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Die Symptome, die gewöhnlich im Alter von etwa 38 Jahren erstmals auftreten, umfassen Bewegungs- und Sprachstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, Stimmungsschwankungen und ein vermindertes Urteilsvermögen. In der Bundesrepublik gibt es etwa 9.000 Erkrankte und circa 25.000 potentiell Betroffene.

Die Identifizierung des Gens wird die Diagnostik ebenso wie Screening- und Testverfahren verbessern und soll, so die WissenschaftlerInnen, eines Tages zu Therapiemöglichkeiten führen. Die Entdeckung, die vor kurzem in der Zeitschrift Cell beschrieben wurde, geht auf Aktivitäten einer internationalen Huntington-Forschergruppe zurück. Das Team umfaßte 58 WissenschaftlerInnen aus sechs US-amerikanischen und britischen Arbeitsgruppen und wurde 1984 unter anderem von James Gusella und Nancy Wexler organisiert.

„Angesichts der Schwierigkeiten gibt die Identifizierung des Huntington-Gens anderen Gen- Jägern, die gegenwärtig vielen anderen Genen für menschliche Krankheiten auf der Spur sind, neue Hoffnungen“, so Francis Collins vom Howard Hughes Medical Institute, der ebenfalls an dem Projekt beteiligt war.

Das Huntington-Gen, dem die ForscherInnen die Bezeichnung „IT 15“ (Interessantes Transkript Nr. 15) gaben, wurde in dem Genmaterial von 75 betroffenen Familien als fehlerhaft vorgefunden. Es befindet sich auf Chromosom 4 und trägt die Information für ein bislang unbekanntes Protein, auf dessen Charakterisierung sich das Team als nächsten Schritt konzentrieren wird.

Bei Huntington-Patienten hat das IT-15-Gen zu viele Wiederholungen eines bestimmten, kurzen Abschnitts des Erbmaterials, der aus den drei DNA-Bausteinen C, A und G besteht. Der Defekt ähnelt damit den kürzlich vorgefundenen Verhältnissen bei drei anderen genetischen Erkrankungen. Die Forscher vermuten jetzt, daß diese fehlerhafte Wiederholung sich als verbreitetes Charakteristikum menschlicher Erbkrankheiten erweist.

In der DNA nichtbetroffener Individuen wird der betreffende kurze Abschnitt 11 bis 34mal wiederholt. Bei den Chorea-Huntington-Patienten findet er sich 42 bis 100mal im Gen. Möglicherweise gibt es eine Korrelation zwischen der Anzahl der CAG-Wiederholungen und dem Alter des ersten Auftretens von Symptomen. Die Ergebnisse lassen vermuten, daß das Erkrankungsalter um so später liegt, je seltener die Wiederholungen sind.

„Die Möglichkeit, die Größe des wiederholten Abschnitts bei Personen mit Verdacht auf Huntington direkt zu messen, wird die vorklinische Testmöglichkeit auf Huntington revolutionieren“, so die Arbeitsgruppe in einer Stellungnahme.

Bislang hatte man das Gen nur ungefähr lokalisiert und kannte lediglich einige DNA-Sequenzen in der Nähe des vermuteten Genorts. Daher ließ sich nur eine indirekte Genotyp-Analyse durchführen: Bis zu zehn dieser Nachbarsequenzen mußten bestimmt und nach Möglichkeit Eltern und Großeltern von Risikopersonen in die Analyse mit einbezogen werden. Eine sichere Prognose war zudem mit diesen Tests nicht möglich. Es blieb immer noch ein Unsicherheitsfaktor übrig, ob eine genetische Veranlagung für diese Krankheit wirklich vorlag. Die Diagnose war zudem so aufwendig und kompliziert, daß sie nur in speziell dafür eingerichteten Labors durchgeführt werden konnte.

Darin lag aber auch die Chance für einen behutsamen Umgang mit der präsymptomatischen Diagnostik. Die in einem weltweiten Dachverband zusammengeschlossenen Selbsthilfeorganisationen hatten gemeinsam mit HumangenetikerInnen ein Protokoll entwickelt, das von den meisten Beratungsstellen als verbindlich akzeptiert wurde.

Da es sich bei Chorea-Huntington um eine spät auftretende Erkrankung ohne jegliche Therapiemöglichkeiten handelt, sollten die Testwilligen vorher zu einer genauen Klärung ihrer Motive und Entschlüsse angehalten werden. Eine begleitende Therapie sollte sicherstellen, daß die dann als Träger des Gens identifizierten Betroffenen das Ergebnis verkraften und für ihre Lebensplanung verarbeiten konnten. Dies könnte sich nun dramatisch ändern.

„Durch die Vereinfachung des Tests sind die Probleme noch schwerwiegender geworden“, so Ulrike Thies vom Humangenetischen Institut der Universität Göttingen, „theoretisch kann sich jetzt jeder an ein diagnostisches Labor wenden und den Test ohne Beratung machen lassen.“

Die beiden deutschen Selbsthilfe-Initiativen haben sich denn auch in einem gemeinsamen Votum dafür ausgesprochen, die Untersuchung wie bisher nur in humangentischen Zentren durchführen zu lassen. Insbesondere Neurologen, Gynäkologen und Kinderärzte sollen von ihren Standesorganisationen dazu aufgefordert werden, die Gendiagnose nicht eigenmächtig in Auftrag zu geben. „Es besteht jetzt die enorme Gefahr, daß Tests ohne jede Beratung durchgeführt werden“, unterstreicht auch Nancy Wexler aus der Huntington-Arbeitsgruppe, die vor allem eigenmächtige Untersuchungen im Rahmen der Pränataldiagnostik und von Adoptionsvermittlungsstellen befürchtet.

Hinzu kommt, daß Testwillige bisher auch ihre Verwandten zum Test bewegen mußten — ein Anliegen, das oft daran scheiterte, daß diese ihr Recht auf Nichtwissen geltend machten. Diese Situation gibt es jetzt nicht mehr: Jedes Kind, das sich testen läßt, hat mit dem Ergebnis auch gleich die Diagnose für sein bislang vielleicht noch symptomfreies Elternteil in der Hand, und ein positiver Befund verändert nicht nur das eigene Leben radikal.

An diesem Punkt gibt es Dissens unter den Selbsthilfeorganisationen. Die „Deutsche Huntington- Hilfe“ und alle anderen europäischen Initiativen setzen das Recht des Kindes auf Wissen höher an; die „Deutsche Huntington-Gesellschaft“ lehnt diese Sichtweise strikt ab. Wenn im Herbst dieses Jahres auf einem Treffen der internationalen Dachorganisation der Huntington-Initiativen in Boston Empfehlungen verabschieden werden, wird dieser Streitpunkt vermutlich die größte Rolle spielen. Ludger Weß

Mit dem Schicksal von Huntington-Betroffenen hat sich der Filmemacher Jörg Gfrörer beschäftigt. Sein Film „Risikoperson“ wird am 12. Juni in Berlin, Haus der Demokratie, Friedrichstr. 165, um 19 Uhr vorgestellt.