Es gibt keine Standardtherapie

Beim „Schöneberger Modell“ arbeiten Klinik, Hausärzte und Sozialstationen bei der Versorgung von Aids-Patienten eng zusammen  ■ Aus Berlin Corinna Raupach

Der junge Mann liegt auf dem Rücken, keins seiner mageren Glieder rührt sich. Das Röcheln, welches sich bei jedem Atemzug aus seinem Mund quält, ist sein einziges Lebenszeichen. Seit seiner Einlieferung vor drei Wochen liegt Sebastian F. (Namen der Patienten von der Redaktion geändert) im Koma. Er leidet an Toxoplasmose, einer durch Bakterien hervorgerufenen Entzündung im Gehirn. „Wenn er nicht intubiert wird, erstickt er“, befürchtet Oberarzt Keikawus Arasteh. Ein in den Mund geschobener Ring verhindert, daß der Patient zubeißt, während Arasteh ihm ein Plastikrohr in die Luftröhre einführt. Orangeroter Schaum sprudelt aus dem Rohr. „Eiter, purer Eiter“, sagt Arasteh und zieht die Gummihandschuhe aus. Danach atmet der Patient ruhiger. Am nächsten Morgen ist er tot. „Wenigstens einen ruhigen Tod haben wir ihm verschaffen können“, sagt Arasteh.

Ein Todesfall in der Woche ist normal auf den Stationen 30 B und 30 C im Auguste-Victoria-Krankenhaus (AVK) in Berlin-Schöneberg. Mit 50 Betten befindet sich hier das größte Aids-Zentrum Europas. „Man muß den Tod hier als einen Abschied sehen“, sagt Krankenpfleger Johannes. „Partnerschaftliche Begleitung endet in unserem Fall immer mit einem Verlust. Wir müssen emotionale Distanz bewahren.“ Das ist nicht immer leicht. Für die Pfleger, die fast alle schwul sind, ist Aids selbst ein Thema. „Patienten in den einschlägigen Kneipen wiederzutreffen, macht es auch nicht einfacher“, sagt Pfleger Rainer.

Nach dem ersten Aufenthalt im AVK können viele Patienten ein fast normales Leben weiterführen. Vielen Infektionen ist beizukommen, anderen kann man vorbeugen. Doch die Patienten kommen immer wieder, und irgenwann sind sie zum letzten Mal hier. Der ersten, der „Aids-definierenden“ Infektion folgen Mehrfachinfektionen, Pilze, Tumorerkrankungen, tuberkuloseähnliche Mykobakterien oder heftige Durchfälle verursachende CMV-Viren. Irgendwann schlagen die Medikamente nicht mehr an, oder die Nebenwirkungen werden nicht mehr verkraftet. Die durchschnittliche Lebenserwartung nach dem Ausbruch der Immunschwächekrankheit liegt bei zweieinhalb Jahren.

Axel P. zum Beispiel weiß von seiner Infektion schon seit 1987, seit 1991 war er schon dreimal im AVK. „Ich hätte schon vor einem Jahr tot sein können, als ich einen Autounfall in Schweden hatte. Mein Freund kam dabei ums Leben.“ Am besten, man mache sich keinen Kopf, meint er. Deprimierend sei nur, daß immer mehr gute Freunde stürben, und neue Beziehungen einzugehen sei nicht einfach. „Mit 48 geh' ich nicht mehr gut weg.“ Bei ihm bestätigte die Coloskopie am Morgen den Verdacht auf Darmkrebs. Nach der angesetzten Chemotherapie will er seine Wohnung renovieren und reisen, nach Norditalien und England. „Ich muß mein Geld noch verquietschen, damit meine Verwandtschaft es nicht bekommt.“

„Unser Slogan ist: Stationäre Behandlung so kurz wie unbedingt erforderlich, ambulant so lange wie vertretbar“, sagt Chefarzt Manfred l'Age. Das Schöneberger Modell, das sich an das San Francisco General Hospital anlehnt, beruht auf der engen Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Sozialstationen und dem Krankenhaus. Solange wie möglich werden die HIV-Infizierten oder Aidskranken von ihren Hausärzten behandelt, die regelmäßig zu Fortbildungsveranstaltungen eingeladen werden. Wenn nötig, werden sie von Sozialstationen betreut oder gepflegt. Nur bei akuten Erkrankungen dient das Krankenhaus als Bündel diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten.

Patienten, die zwar intensive Behandlung brauchen, aber mobil genug sind, um abends nach Hause gehen zu können, werden in der Tagesklinik betreut. „Wir haben so die Liegezeiten der Patienten um durchschnittlich fünf Tage auf 19 verringert“, sagt Stationsarzt Hans-Christian Mayr.

Der hochmoderne Diagnosepark der Stationen reicht von Endo-, Bronchio- und Coloskopie über Computer- und Magnettomographie bis zum augenärztlichen Interieur. „Bei Aidspatienten muß man zu den Ursprüngen der Medizin zurückkehren und den Keim selbst nachweisen“, erläutert Arasteh. Es wird viel endoskopiert, um Gewebeproben zu entnehmen, da man Infektionen nicht wie bei einem intakten Immunsystem anhand der Antikörper im Blut nachweisen kann. Es gibt auch keine standardisierten Therapien, immer wieder wird während der Visite oder bei der Übergabe an die nächste Schicht über die wirksamste Behandlung diskutiert.

Die Stationen beteiligen sich immer wieder an Medikamentenstudien, denn bei Aids gehört die Forschung zur Therapie. „Nur so haben wir die Möglichkeit, den Patienten gerade erst entwickelte und zum Teil hochwirksame Medikamente zu geben, an die wir sonst nie herankämen“, sagt Arasteh, während er eigenhändig zwischen Visite und einer Endoskopie die Proben von heute verpackt. Weder Arzt noch Patient wissen allerdings, ob das verabreichte Medikament den zu testenden Wirkstoff oder nur Traubenzucker enthält.

Die Arbeit der Psychologen, von denen je einer auf jeder Station angestellt ist, hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Während sie früher vor allem mit Menschen zu tun hatten, die lernen mußten, mit ihrer Ersterkrankung umzugehen, haben die Patienten heute mehrere opportunistische Infektionen gleichzeitig und oft schwere Gehirnhautentzündungen, die bis zu psychotischen Krankheitsbildern führen. „Die verblöden regelrecht, wissen nicht mehr, wer und wo sie sind, können kein normales Gespräch mehr führen“, sagt die Psychologin auf Station 30 C. In solchen Fällen arbeitet sie mit Angehörigen und Freunden, die nicht nur getröstet werden wollen. „Denen muß ich erst mal erklären, daß der Patient so aggressiv ist, weil er sich hirnorganisch verändert hat.“

Der Sozialarbeiter auf den Stationen nimmt Kontakt zu den Angehörigen auf, klärt die häuslichen Verhältnisse und vermittelt Sozialstationen oder Pflegeheime. „Meine Hauptaufgabe ist, dem Patienten möglichst schnell jeden materiellen Druck zu nehmen“, sagt Rainer Döring. Die Anträge auf Schwerbehindertenausweis, Krankengeld oder Sozialhilfe und Pflegegeld werden schon vom Krankenhaus aus gestellt.

Das AVK ist das größte der vier Krankenhäuser Berlins, die über Aids-Stationen verfügen. Neben den Universitätsklinika Steglitz und Rudolf Virchow befindet sich ein weiteres Modellprojekt am städtischen Krankenhaus Prenzlauer Berg. Schon vor der Wende war die Infektionsklinik zuständig für die wenigen HIV-Patienten der DDR. Etwa zwei oder drei Patienten seien es im Durchschnitt gewesen, erinnert sich Chefärztin Renate Baumgarten. Nach der Wende wurde klar, daß für infizierte Drogenabhängige auch im Westen keine ausreichende Versorgung existierte. Heute sind jeweils die Hälfte der 15 für Aidskranke vorgesehenen Betten der Infektionsklinik von Drogenabhängigen belegt.

Diese Patienten haben häufig Schwierigkeiten, sich an den Klinikalltag anzupassen. Oft sind sie unpünktlich, halten sich nicht an Regeln oder verweigern Untersuchungen. Auch wird nirgends sonst persönliche Zuwendung so oft ausgenutzt oder enttäuscht wie von diesen Patienten. „Die bringen den konservativen Krankenhausalltag schon ziemlich durcheinander“, sagt Baumgarten.

Abhängige werden in Prenzlauer Berg grundsätzlich zunächst substituiert, um eine Behandlung überhaupt zu ermöglichen. Die Sucht gilt als Krankheit, die mitzubehandeln ist. Ziel ist dabei, die Patienten erst von der Nadel und langfristig von Drogen überhaupt abzubringen. „Vor allem müssen sie vom Beschaffungszwang, von Prostitution und Kriminalität befreit werden.“ Um ihnen auch nach dem stationären Aufenthalt Perspektiven für ein drogenfreies Leben zu ermöglichen, arbeitet die Klinik eng mit örtlichen Selbsthilfegruppen und Drogenberatungen zusammen. Deren Mitarbeiter lernen die Patienten schon im Krankenhaus kennen, einzeln oder im wöchentlichen Patientencafé. Gemeinsam versucht man, einen Therapieplatz, einen Drogenberater, einen substituierenden Arzt, aber auch eine Wohnung oder eine Pflege zu organisieren. Für Vor- und Nachsorge stehen Tagesklinik und HIV-Ambulanz zur Verfügung. Hier können auch bis zu 16 Patienten substituiert werden, für die sich kein Arzt findet.

An diese Patienten richtet sich das Hauptangebot der Psychologin Margit Dehne. Daß nach 16 oder mehr Jahren Sucht trotz Aids noch etwas anderes im Leben kommen kann, will für viele gelernt sein. In Gesprächsgruppen auf der Station können sich die Patienten kennenlernen, Erfahrungen austauschen und die Vorbehalte abbauen, die zwischen Schwulen und Junkies gängig sind. Mit der Gruppe aus der Tagesklinik arbeitet sie schon ein Jahr. Deren Mitglieder sind allerdings zur Zeit so zerstritten, daß sogar der geplante Ausflug in den Zoo ausfallen mußte. Konfliktfähig zu werden sei gerade für Drogenabhängige schwierig. „Früher haben sie Konflikte weggedrückt, jetzt wollen sie der Situation selbst ausweichen.“

Wer in Berlin an Aids oder Aids-assoziierten Krankheiten leidet, wird von den anderen Krankenhäusern meist in eine der Schwerpunktkliniken überwiesen. Leiden HIV-Patienten aber an einer Blinddarmentzündung, brechen sich den Arm oder brauchen einen Bypass, werden sie auch in allen anderen Krankenhäusern behandelt und teilen sich dort auch mit anderen Patienten die Zimmer. „Es gibt auch keinen Grund, der dagegenspräche“, sagt Wolfgang Dissmann, der stellvertretende ärztliche Leiter am Kreuzberger Urban-Krankenhaus. In den Zimmern werde vermieden, vor anderen Patienten über die Infektion zu sprechen. Die Hygienevorschriften orientieren sich an den für Hepatitis B vorgesehenen. „Vielleicht wird ein Arzt, der um die Infektion weiß, bei der Operation noch mehr als sonst darauf achten, sich nicht durch den Handschuh in den Finger zu schneiden“, so Markus Schwarz, der in der Charité HIV-Patienten berät.

Unkenntnis und mangelnde Erfahrung können aber immer noch fast groteske Reaktionen auslösen. Als die Frankfurter Uniklinik vor eineinhalb Jahren vorübergehend ihre 15 Aidsbetten auf sieben verringern mußte, wurden die Patienten auf andere Krankenhäuser verteilt. Dort malte das verschreckte Pflegepersonal „Vorsicht, Aids!“ an die Türen und betrat die Räume nur in Schutzkleidung. „Einmal wurde sogar ein Patient durch eine große Plastikplane von anderen getrennt“, sagt Rüdiger Anhalt von Act Up.