Pietät und Takt etc.: Plötzlich verschieden:
■ Die Zeitschrift „Der Alltag“
Was mich gleich für die Zeitschrift Der Alltag eingenommen hat, als ich sie zum ersten Mal in die Finger bekam, war jener Satz im Impressum, an dem sicher so mancher Nachwuchsschreiber hängengeblieben ist: „Manuskripte und Anregungen willkommen.“ Es muß vor etwa acht Jahren gewesen sein, als ich mich von diesem freundlichen Wink ermuntern ließ, dem „Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ – so der Untertitel – meine Texte anzubieten. Der Alltag hatte damals schon, in der Schweizer Nische von der deutschen Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt, über fünf Jahre hinweg einen neuen Zugriff auf das Allzubekannte probiert. Seinerzeit war das eine hübsch lässige Provokation des linken Zeitgeistes, der sich auch den kleinsten Kleinigkeiten nur mit schwerstem ideologiekritischen Gerät zu nähern traute. Der ziemlich bornierte Vorwurf „postmoderner Beliebigkeit“ ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Wer dabeiblieb und die Wege des Alltag verfolgte, bekam freilich etwas hierzulande Seltenes geboten: den praktischen Nachweis der Vereinbarkeit von Aufklärung und Verspieltheit. Der Alltag wurde von Beginn an mit Vertrauen auf eine Leserschaft gemacht, die gelernt hat, sich auf das Gegebene selbst ihren Reim zu machen. Daher hat für Walter Keller, den Herausgeber der Zeitschrift, auch immer das Foto eine so prominente Rolle gespielt – nicht als Illustration, sondern als eigener Erkenntnisstoff.
Mittlerweile erscheint ja keine Wochenendbeilage, kein buntes Magazin mehr ohne irgendeinen Reisebericht aus dem Mikrokosmos der Lebenswelt. Da könnte man meinen, ein Projekt wie Der Alltag habe sich überlebt. Aber die Zeitschrift hatte sich unterdessen – da die Sensationen des Gewöhnlichen eine allgemeine Lust geworden waren – längst dem Essay, dem Traktat, der Rezension und auch eigenständigen literarischen Versuchen geöffnet – eine kluge Gegenbewegung, die den Abschied um so schwerer macht.
Walter Keller, der Erfinder des Alltag, streicht nun nach einem jahrelangen Kampf um die Finanzierung der Zeitschrift die Segel, bevor noch das bereits angekündigte Heft zum Thema „Krieg und Frieden“ erscheinen kann. Es wäre ziemlich unpassend, wollte man das angenehm lakonische Projekt des Alltag nun mit pathetischen Floskeln zu Grabe tragen. Aber schade, zu und zu schade ist es doch. Jörg Lau
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