Wie im richtigen Fernsehen

■ Peter Sellars inszeniert in Amsterdam Debussys „Pelléas et Mélisande“

Claude Debussys einzige vollendete Oper, „Pelléas et Mélisande“ (1902), ist gefährlich anti- effektvoll. Keine Wagnersche Leitmotivik, keine ariosen Klanginseln im Stile italienischen Belcantos und Verismos schaffen identifizierbare Luzidität, der Hörer taucht über eine melancholisch-schwergewichtige Partitur in ein impressionistisches Narkotikum ein. „On ne dit pas, on suggère“ – man sagt nicht, man beeinflußt, Mallarmés Symbolismusformel hate Einfluß auf das sperrige Bühnenwerk, wobei eine akzentuierte Inszenierung grundsätzlich eine Balance zwischen Musik und Text (Maurice Maeterlinck) verhindern würde.

In Amsterdam hatte die Musik schon nach wenigen Takten verspielt. Kaum ließen Simon Rattle und das famos leicht nachzeichnende Rotterdams Philharmonisch Orkest die einleitende d-moll-Grundierung schwebend ausatmen, waren sie für die verbleibenden drei Stunden nur noch luxuriöse Begleiter des american way of soap opera. „Denver-Clan“, „Dallas“, keine noch so hinlänglich bekannte Chiffre aus dem TV- Reich amouröser Intrigenspiele ließ Regisseur Peter Sellars aus, der Liebeskampf zwischen Pelléas, Mélisande und ihrem Gatten Golaud wurde zum sentimentalen Nebenschauplatz einer upper-class- Familie – gestützt von schwarzen Dienerinnen, geschützt vom drahtig-derben Security-Dienst. Für den Zeitrafferdurchlauf amerikanischer Psychogramme hat Bühnenbildner George Tsypin einen mehrstöckigen Querschnitt nach Frank Lloyd Wrights „Fallingwater“ gebaut, der simultan ein Panoptikum spannungs- und farblosester Individuen präsentiert: Pelléas als verschüchterter Sonnyboy im Golfdreß, Mélisande als hysterische, (von Drogen?) zerfurchte Angebetete, die von ihrem grobschlächtigen Hünen Golaud mal geliebt, mal mißhandelt wird.

Die Gesten sind schal, leer, wirken durchrationalisiert, Andeutungen werden überinszeniert. Treffen sich Pelléas und Mélisande heimlich auf dem rot beleuchteten Balkon, signalisieren aseptisch neone Wohn- und Krankenzimmer mit dem bettlägerigen Familienoberhaupt Arkel emotionale Lethargie. Peter Sellars langweilt mit Schablonen und Abziehbildern, anstatt mit verborgensten Seelenbewegungen spannungsvoll zu experimentieren – und schreckt nicht vor der Stilblüte Reality-TV zurück. Leiden und Leidenschaften werden dem Publikum über Monitore hautnah präsentiert, die Oper schrumpft zum voyeuristischen Wohnzimmer.

Spannungslos auch die sängerische Leistung, die mitunter dem französischen Text nur im Staccato-Ton beikam. Lediglich Gaäle Le Roi als Yniold konnte mit nuanciertem Sopran große Bögen phrasieren, das übrige englischsprachige Ensemble atomisierte das Libretto bis zur kristallinen Form und verhinderte Charakterzeichnungen. Philip Langridge als Pelléas liebt eben Mélisande (Elise Ross), der gehörnte Golaud (Willard White) sticht seinen Nebenbuhler nieder – so steht's bei Maeterlinck, so nimmt es Sellars, uninspiriert für unaussprechliche Zwischentöne, für bare Münze.

Und wie im richtigen Fernsehen entgeht der Übeltäter Golaud nicht der gerechten Strafe: abgeführt wird er in Handschellen von schlagfertigen Cops. Guido Fischer

Claude Debussy: „Pelléas et Mélisande“. Lyrisches Drama in fünf Akten. Libretto: Maurice Maeterlinck; Inszenierung: Peter Sellars; musikalische Leitung: Simon Rattle, Rotterdams Philharmonisch Orkest. Weitere Vorstellungen: 8., 11., 13., 16., 18., 20., 23. Juni