■ Was ist schon wieder in Deutschland los?
: Unsere Kinder – ihr Haß

Was ist mit unseren Kindern los? Was ist mit uns als Eltern los? Was war mit unseren Eltern los? Was ist schon wieder in Deutschland los? In der Nacht, wenn wir schlafen, legen andere Feuer; in Häusern, in denen türkische Familien leben. Es sind Jugendliche, die das tun. Es sind Mordanschläge, die sie verüben. In Solingen war es ein 16jähriger Junge, aufgestachelt von zwei Älteren. In den darauffolgenden Nächten brannte es in Hattingen, in Konstanz, in Frankfurt. Auch dort werden es junge Männer gewesen sein. Diejenigen, die den Atem anhalten und nicht wissen, wie sie das verhindern können, haben es mit der Generation ihrer Kinder zu tun. Nicht mit der ihrer Nazi- Eltern. Dennoch reagieren viele in ihrem Zorn auf die Täter so, als könnten sie endlich Rache für die aufgebürdete kollektive Schuld nehmen. Am Beispiel des 16jährigen Christian aus Solingen ist das überdeutlich zu sehen. Die Öffentlichkeit würde ihn am liebsten zu einem Klischee-Nazi machen, den ein deutsches Gericht exemplarisch hart bestrafen könnte. Dann wäre alles wieder gut. Zumindest für die Deutschen in Deutschland. Warum hatte er es getan? Weil seine Mutter vielleicht Alkoholikerin ist? Weil sein Vater sich nie um ihn, den Sohn, gekümmert hat? Weil er sich in seiner Einsamkeit so ohnmächtig, so furchtbar bedeutungslos fühlte und darum in diesen brutalen Machtrausch geriet? Weil er seinen mörderischen Haß gegen seine Familie verschoben hat auf die türkische Familie von gegenüber? Für diesen Jungen mag das alles gelten. Aber es ist keine Erklärung dafür, warum er seinen Haß so auszuleben wagte. Und das ist kein Zufall.

Türkische Familien, die seit Jahren hier leben und durch ihre Arbeit zu mittelständischem Besitz gekommen sind, wird das Haus über dem Kopf angezündet. Warum? Sie haben es zu etwas gebracht. Dazu unter extrem schweren Bedingungen. Ihre Familien wirken nach außen intakt. Darum gerade sie. Wie andere jugendliche Randalierer, jugendliche Täter, jugendliche Nazis hat auch dieser 16jährige gespürt, daß es in Deutschland eine Stimmung gibt, in der damit gerechnet wird, daß so etwas passiert. Nicht: passieren kann. Nein: daß es passieren wird. Dieses Land wird von Leuten regiert, die sich nicht entschließen wollen, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu machen. Warum nicht, sei hier dahingestellt. Entscheidend ist, daß sie sich dazu nicht entschließen wollen, sich lieber zu gar nichts entschließen wollen. Auf labile Jugendliche muß dieser Vater Staat schwach wirken, ja sogar heimlich die brachiale Gewalt der Jungen billigend in Kauf nehmend. Würde er sonst nicht längst für die Türken entschieden haben?

Seit etwa zehn Jahren hat sich rechte Gewalt wieder öffentlich breitmachen können. Angefangen bei Kanzler Kohl, der in Bitburg die Gräber von SS- Mitgliedern besuchte, aber nicht zur Solinger Trauerfeier ging, und dadurch wahrscheinlich weitere Mordanschläge motiviert – bis runter zu wachsenden Nazi- Organisationen. Die haßerfüllten Jugendlichen sind nur das schwächste Glied in dieser gesellschaftlichen Kette. Auch dann, wenn sie töten. Sie funktionieren als Ventil einer immer in Deutschland vorhandenen Bereitschaft zur Gewalt gegen Minderheiten. Die Erlebnisfähigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschätzen Erwachsene allzu gern. So lange, bis ihre Kinder sie zum Handeln zwingen. Viola Roggenkamp

Publizistin, lebt in Hamburg