Jens Reich, Protagonist der Bürgergesellschaft

■ Der Bürgerrechtler des Jahres 1989, Wissenschaftler und Publizist, wurde von einer Reihe namhafter Intellektueller für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen

Jens Reich, 1939 als Arztsohn in Göttingen geboren, studierte in den fünfziger Jahren Medizin an der Berliner Humboldt-Universität und anschließend Bio-Chemie in Jena. Seit 1968 arbeitete er am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch und wurde dort zum Professor und zum Leiter der Abteilung für mathematische Biologie berufen, eine Disziplin, auf die er sich seither erfolgreich spezialisiert hat. Seit den Tagen seiner Studienzeit Liebhaber der Literatur und Verehrer Thomas Manns, Büchersammler und sattelfest in vielen Wissensgebieten, richtete er sich mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Freunden eine Nische ein, die so unkomfortabel nicht war.

Da er sich aber weigerte, den Mindesttribut an die Herrschenden zu leisten, nämlich einer Blockpartei beizutreten und für die „Firma“ Buch zu führen über seine Westkontakte, setzten die SED-Oberen seiner wissenschaftlichen Karriere enge Grenzen. Er wurde als Chef seiner Abteilung in Buch abberufen, Westreisen wurden ihm untersagt. Für einen Forscher, dessen „Mekka“ in den USA liegt, ein unwiederbringliacher Verlust. Zweimal in den siebziger Jahren arbeitete Reich an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Puschtschino auf seinem Forschungsgebiet. Er festigte nicht nur seine Kenntnisse des Russischen sondern auch freundschaftliche Kontakte, die ihn später zu einem entschiedenen Protagonisten der Perestroika auch in der DDR werden ließen.

1982 gehörte Jens Reich zu den Mitgründern des „Freitagskreises“, einer Intellektuellenrunde von rund dreißig Leuten, die sich, politisch freilich folgenlos, mit der Anatomie des realsozialistischen Herrschaftssystems beschäftigten. Als die Zeitschrift Lettre International zu erscheinen begann, gehörte Jens Reich nahezu von Anfang an zu ihren wichtigsten Mitarbeitern. Unter dem Pseudonym „Asperger“ veröffentlichte er die scharfsinnig-ironische Analyse über die DDR als ruhendes, inertes System und setzte auch der Stasi ein unverdientes literarisches Denkmal. Als über die DDR die finale Krise hereinbrach, entschloß sich Reich, die Nische zu verlassen und zu handeln. Er war unter den Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufs vom 9.9.1989 für das „Neue Forum“, eine Sammlungsbewegung, die „es Menschen aus allen Berufen, Lebensbereichen, Parteien und Gruppen möglich machen soll, an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in der DDR sich zu beteiligen“.

Seiner ganzen intellektuellen und moralischen Physiognomie nach war Reich dafür prädestiniert, sich für eine eigenständige, demokratische Entwicklung in der DDR einzusetzen. Dafür kämpfte er, seit seiner Rede am 4. November 89 auf dem Alexanderplatz als Bürgerrechtler, später als Abgeordneter der Volkskammer. Daß seine Hoffnungen getrogen hatten, war Reich schon nach dem Ergebnis der Volkskammerwahlen klar. Als auch seine Vorschläge, die Vereinigung als gleichberechtigten Prozeß zu verstehen und ihn im Rahmen einer neuen Verfassung zu Ende zu bringen, scheiterten, resignierte Jens Reich. Er schlug das Angebot aus, für das Bündnis 90 zur Bundestagswahl zu kandidieren.

Seither belebt Jens Reich die Feuilletons mit seinen gescheiten, niemals prätentiösen, niemals gekränkten Ansichten. Er hat mehrere Essaybände verfaßt, darunter den „Abschied von den Lebenslügen“, eine Analyse der Intelligenz unter dem Realsozialismus, der Formen, in der sie zum Komplizen und Nutznießer des Regimes wurde und ihrer Erbitterung, dem jähen Erwachen, als die Bevölkerung leider nicht so wollte wie sie – ein Dokument der Aufklärung und Selbstaufklärung. Reich hat nie zur Partei der wütenden Verfolger ehemaliger SED-Tyrannen gehört, speziell gegenüber Honecker entwickelte er Beißhemmungen. Seine Schilderungen der BRD-„Machtübernahme“ in den neuen Ländern – auch die der drohenden Abwicklung seiner eigenen Professur in Buch – sind stets ohne Ranküne und Selbstmitleid. Zuletzt arbeitete er auf Grund eines Forschungsstipendiums in Heidelberg. Christian Semler