Deutsche Atommeiler sind nicht rißfest

■ Regierungskommission: Risse in Brunsbüttel konnten beim Betrieb entstehen

Berlin (taz) – Der Spezialstahl, der im Atomkraftwerk Brunsbüttel an der Elbe einen großen Reaktorunfall verhindern soll, ist nicht rißfest. Entgegen bisherigen Aussagen der Betreiber und des Herstellers Siemens/KWU können Rohrleitungen aus „austenitischen Edelstählen“ während des Betriebs von Siedewasserreaktoren reißen. Das geht aus einem vertraulichen Papier der Bonner Reaktorsicherheitskommission hervor. In dem der taz vorliegenden Papier heißt es: „Für die in einzelnen Fällen beobachteten Rißbildungen größerer Abmessungen (in Brunsbüttel, d. Red) sind betriebliche Einflüsse, die zur Erweiterung beigetragen haben können, nicht auszuschließen.“ Mit anderen Worten: Die großen Risse im Rohrleitungssystem des derzeit stilliegenden Reaktors können beim normalen Betrieb entstanden sein. Das Risiko eines Atomunfalls wäre bei solch unzuverlässigen Rohrleitungen unmittelbar.

Wie brisant das Eingeständnis der regierungsnahen Reaktorexperten ist, zeigt der Befund. So sind einzelne der über 100 Risse, die in den Rohrleitungen des Atommeilers Brunsbüttel entdeckt wurden, bis zu 200 Millimeter lang und gleichzeitig über 6 Millimeter tief. Die Rohrleitungen sind aber nur 7,4 Millimeter dick. „Wenn man nicht weiß, wie schnell so ein Riß beim Betrieb entsteht, muß man sofort abschalten“, so Gerhard Schmidt vom Darmstädter Öko- Institut. In der Bundesrepublik werden neben dem Meiler in Brunsbüttel, zwei Siedewasserreaktoren in Gundremmingen und je einer in Würgassen, Ohu, Krümmel und Philipsburg mit Rohren aus solchem Spezialstahl betrieben.Teile der Sicherheitsphilosophie der Reaktorbetreiber sind damit hinfällig. Reaktorexperten warnten gestern, nach den neuen Befunden könne man nicht mehr davon ausgehen, daß schon lange vor einem gefährlichen Rohrabriß etwas zu sehen sei und Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden könnten.

Wie brisant die Reaktorbetreiber selbst die Risse beurteilen, zeigt sich an Plänen, bei den nächsten Kontrollrevisionen betroffener Meiler in Bayern und Baden- Württemberg die umstrittenen Rohrleitungssysteme ohne großes Aufsehen auszutauschen. Hermann-Josef Tenhagen